Das verlorene Regiment 01 - Der letzte Befehl
Augen.
»Es sind diese Tugaren, nicht wahr?«, beharrte Hawthorne.
»Woher hast du dieses Wort?«, keuchte sie.
»Einmal, als ich noch krank war und du glaubtest, ich schliefe, habe ich ein Gespräch zwischen dir und deinem Vater mitgehört, und dabei fiel dieses Wort. Er gab dir einen leichten Klaps, als wollte er dich warnen. Und ich habe das Wort erneut flüstern gehört, als ich an zwei Bettlern auf der Straße vorbeiging, die eines dieser grausigen Standbilder anblickten. Tanja, was sind die Tugaren?«
»Ich kann nicht!«
Die ersten Klänge des Zapfenstreichs ertönten im Hintergrund.
»Du musst zurückgehen«, sagte sie und versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. Er hielt sie jedoch fest.
»Tanja, ich liebe dich«, flüsterte er. »Du musst mir erklären, was sie sind.«
»Wenn ich das tue, bedeutet es meinen Tod und den meiner ganzen Familie.«
»Du musst es mir erzählen, bitte! Ich werde nicht weglaufen; das kann ich einfach nicht. Aber falls es da etwas gibt, was meine Freunde verletzen kann, muss ich es erfahren!«
Schluchzend musterte sie flehend ihren Geliebten.
Andrew öffnete die Tür und wischte sich den Schlaf aus den Augen.
»Hawthorne, es ist lange nach Zapfenstreich. Sie sollten lieber einen verdammt guten Grund haben!«
Der Junge stand zitternd und aschfahl vor ihm.
»Sir, es ist ungeheuerlich!«
»Was?«
Mit großen Augen blickte ihn der Junge nur an.
»Kommen Sie rein und setzen Sie sich.«
Andrew ging zu seiner Feldkiste, holte eine Flasche Brandy hervor, goss einen Drink ein und reichte ihn dem zitternden Soldaten. Erschrocken und verblüfft musste er sich ansehen, wie der Quäker das Getränk annahm und herunterkippte. Der Junge musste husten, und als der Alkohol seine Wirkung zeitigte, ließ das Zittern nach.
»Sir, ich habe herausgefunden, was es mit den Tugaren auf sich hat.«
»Erzählen Sie es mir«, verlangte Andrew ruhig.
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich dem Private gegenüber, der anfing zu reden, obschon ihm die Stimme fast versagte.
Jemand klopfte an die Tür, und beide blickten auf. Der Inhalt der Flasche hatte um etliche Gläser abgenommen, und Andrew wusste nicht recht, ob sein Magen aufgrund des Alkohols rebellierte oder aufgrund des Grauens, das er vernommen hatte.
Ehe sie reagieren konnten, flog die Tür auf und Kal trat ein; er zog Tanja hinter sich her, deren Augen vor lauter Weinen ganz verschwollen waren.
»Hat sie es dir erzählt?«, fragte er aufgeregt und blickte Hawthorne an.
Der Junge nickte zur Antwort, stand auf und näherte sich Tanja, die sich von ihrem Vater löste und in seine Arme warf.
Tanja schmiegte sich in Vincents schützende Umarmung. Zu viel war geschehen, als dass sie gewagt hätte, ihm die andere Neuigkeit zu erzählen, von der sie so gern gesprochen hätte. Aber sie sah ein, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war.
Ohne auf Erlaubnis zu warten, goss sich Kal einen Drink ein, leerte ihn und wandte sich an Andrew.
»Kal, das ist grauenhaft, Übelkeit erregend«, sagte Andrew kalt. »Absolut und gottverdammt Übelkeit erregend!«
»Sie dürfen es nicht weitersagen«, bat Kal.
»Nicht weitersagen? Gottverdammt, Mann, erwarten Sie von mir, dass ich einfach zuschaue, wenn zwanzig Prozent meiner Leute davongeschleppt und wie Vieh geschlachtet werden? Verdammt, ich kämpfe bis zum Letzten gegen die, ehe ich das erlaube!«
»Colonel Keane, bitte nicht!«
»Wie können Sie hier sich das nur gefallen lassen? Findet man keinen Mann unter Ihnen, der sich dagegen auflehnt? Was ist nur los mit Ihnen allen? Besser stirbt man mit der Waffe in der Hand, als sich wie Schafe in die Schlachtgruben treiben zu lassen!«
»Dann gäbe es hier niemanden mehr«, versetzte Kal sarkastisch. »Sie haben die Horde noch nicht gesehen, aber ich schon. Die Tugaren sind zahllos wie die Bäume im Wald. Sie werden fast doppelt so groß wie wir. Jeder von ihnen könnte einen Mann mit nur einer Hand hochheben und zermalmen. Sie sind unaufhaltsam wie der Schnee oder der Fluss in den Frühlingsfluten. Nichts kann sie aufhalten! So ist es von jeher – die Adligen herrschen, die Kirche nimmt und die Bauern schuften und werden zur Schlachtung ausgewählt.«
Während er diese Worte sprach, verbarg er seine Gefühle, denn er wollte hören und sehen, wie Andrew darauf reagierte.
»Falls wir uns nicht fügen, schlachten sie uns alle ab. Besser sterben zwei als alle zehn, denn so überlebt wenigstens unser Volk. Falls ein Bauer wagt, nein zu
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