Das verlorene Regiment 02 - Jenseits der Zeit
waren.
Niemand hatte damals damit gerechnet, dass Mikhail, der Halbbruder des früheren Bojaren Iwor, noch am Leben sein würde. Erst nach Verkündung der Amnestie kam er aus seinem Versteck hervor. Schlimmer noch, er gewann den Senatssitz der Stadt Psow in einer Wahl, die offenkundig gekauft worden war.
Unter den achtunddreißig Senatoren des Ein-Kammer-Parlaments fanden sich acht ehemalige Bojaren. Der eher radikale revolutionäre Eifer hatte sich in Suzdal und dem inzwischen teilweise wieder aufgebauten Nowrod tiefgreifend durchgesetzt. In den abgelegenen Bezirken jedoch verstanden die Bauern, die die Pocken und die tugarische Besetzung überlebten hatten, nicht viel von der neuen Staatsform und stimmten daher einfach für ihre althergebrachten Herrscher. Andrew war klar: erst nach Anbindung dieser Gebiete ans Eisenbahnnetz und nach viel Bildung würden sie begreifen, wie schlecht ihnen Abgeordnete dienten, die sich nur dafür interessierten, einen Teil ihrer alten Macht zu bewahren.
Andrew lehnte sich zurück und ließ den Blick über die Versammlung schweifen. Als Kals Vizepräsident fand er sich in der merkwürdigen Position wieder, dem Senat vorzusitzen, obwohl er ihm selbst gerade Rede und Antwort stand; dieser Vorsitz ähnelte jedoch mehr der Arbeit eines Lehrers, denn er musste ständig die Grundlagen eines parlamentarischen Systems erklären, sie Männern verdeutlichen, die keine Tradition und keine eigenen Kenntnisse in einem solchen System mitbrachten. In der Theorie hatte sich das alles so idealistisch und einfach angehört, aber in der Praxis war es mörderisch. Er ertappte sich bei der Frage, was wohl Tom Jefferson zu all dem gesagt hätte.
»Ich verlange Satisfaktion für das, was Ilja hier gesagt hat! Jemand wie er hat nicht das Recht dazu. Er ist nichts als ein Bauer, wie es schon sein Vater und Großvater waren!«, schrie Mikhail und weigerte sich, sich wieder zu setzen.
»Aber Ihr seid ein Bastard!«, höhnte Petrow, ein Vetter Kals und Senator für einen der Nordbezirke von Suzdal. »Euer Bruder Iwor Schwachauge wurde auf der richtigen Seite des Betts geboren, aber nicht Ihr!«
»Senatoren!« Andrew schlug so heftig mit dem Hammer zu, dass der Kopf sich vom Griff löste und in die Mitte des Saals wirbelte.
Dieser Vorgang rief eine Lachsalve auf der Zuschauergalerie hervor und einen Augenblick der Stille auf dem Parkett des Senats.
»Senatoren«, sagte Andrew leise, als das Gelächter wieder erstarb.
»Zunächst ist jede Diskussion über die Abstammung als ein Mittel, um jemanden zu beleidigen, unter der Würde von Senatoren«, fuhr er in mahnendem Tonfall fort.
Petrow sah ihn an und setzte sich wieder, wiewohl man seine Wut nach wie vor sehen konnte.
»Andererseits genießt jeder das Recht zu sagen, was er sagen möchte, solange er damit niemanden persönlich beleidigt. Angeborene Stellung hat in unserer Republik keine Bedeutung mehr. Man wird Senator ohne jede Berücksichtigung der Frage, wer der eigene Vater war.«
Mikhail funkelte Andrew an, sagte aber nichts, während Applaus von der Galerie und von den Senatoren aus dem Volk durch den Saal donnerte.
»Als Nächstes muss ich feststellen«, fuhr Andrew in scharfem Ton fort und blickte dabei zur Galerie hinauf, »dass hier eine Sitzung eures Senats stattfindet, die nicht zu stören ist! Solche Sitzungen sind der Öffentlichkeit stets zugänglich, aber falls wir euch gestatten zu schreien und Kommentare abzugeben, wird der Saal am Ende von einem Mob beherrscht. Ich dulde solche Ausbrüche nicht! Falls ihr Kommentare abzugeben habt, könnt ihr außerhalb des Saals mit euren jeweiligen Senatoren sprechen.«
Die Bürger auf der Galerie sahen einander verlegen an und wurden still.
»Gut. Hat hier jeder die Regeln verstanden?«, fragte Andrew in seinem besten professionellen Ton. .
Die Männer ringsherum nickten, einige mit dem Eifer am Fach interessierter Schüler, während sich die früheren Bojaren rings um Mikhail mit offener Verachtung umblickten.
»Schön. Ich wurde nun gerade als Kriegsminister von Senator Mikhail aus Psow über den Entwurf für den Militärhaushalt des kommenden Jahres befragt. Senator, möchtet Ihr weitere Fragen dazu stellen?«
»Ich denke, dass Euer Vorschlag, wie viele Steuern dazu aufgewendet werden sollen, nur auf Lügen beruht.«
Andrew wurde wütend und musste darum ringen, die Beherrschung zu wahren, und er sah, dass es Mikhail richtig genoss, ihn so zu sticheln.
»Ihr sagtet, es wären Lügen.
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