Das verlorene Regiment 02 - Jenseits der Zeit
trugen, aus der fast das halbe Wasser heraussickerte, ehe es die Stadt erreichte.
Andrew sah Emil an, der das Aquädukt musterte wie ein geliebtes Enkelkind, das, obzwar für den Rest der Welt hässlich, in seinen Augen die vollkommste Schöpfung verkörperte.
Unsere Möglichkeiten sind bis an die Grenze ausgereizt, wurde Andrew klar. Die an die Sklaverei unter den Bojaren gewöhnten Suzdalier hielten eine feste Arbeitszeit von sechs mal zwölf Stunden in der Woche für einen Luxus. Die meisten von ihnen lebten jedoch nach wie vor unter primitivsten Bedingungen. Das alte Gesellschaftssystem lag in Trümmern, und sie versuchten noch, sich in den neuen Verhältnissen zurechtzufinden; zum Glück bewegte sie eine wilde Begeisterung für ihre Revolution. Diese musste ihnen jedoch auf persönlicher Ebene über kurz oder lang etwas bringen, ehe die ersten Risse aufplatzten. Zu lange schon spielte Andrew mit ihnen ein Spiel der Beschwörungen.
Aber es war einfach zu viel zu tun. Die rasende Hektik des Vorbereitens und Bauens hielt vielleicht noch eine kurze Weile vor, vorläufig getrieben von einer schrecklichen Angst, dass es zu einer weiteren Heimsuchung durch die Tugaren kam, sowie einem Bedürfnis, nach Osten vorzustoßen und dort neue Bundesgenossen und Märkte zu finden.
Am anderen Ufer des Flusses wandte sich der Zug nach Osten und wurde beträchtlich langsamer, als er die Erhebungen bewältigte, die am Nordufer der Wina aufragten. Andrew verbannte die Gedanken und machte es sich bequem, um die Landschaft zu genießen, die jetzt vom vollen Licht des Vormittags Übergossen wurde. Eine Bodenfalte verdeckte den Blick auf die Fabriken zu seiner Rechten, erkennbar nur an den Rauchsäulen der Lokomotiven und Eisenwerke dort draußen, in denen ungeachtet der militärischen Notlage Reservemannschaften den Betrieb aufrechterhielten.
Der Qualm der schnaufenden Lokomotive kräuselte sich gen Himmel und erfüllte die Luft mit dem schwachen, aber nicht unangenehmen Geruch von Holzrauch. Die Felder zur Linken, die sich an den noch höheren Erhebungen nördlich der Stadt hinaufzogen, wogten mit der reichen Fülle des Sommers, die Weizenstängel golden und ausgereift.
Vor anderthalb Jahren hatte sich hier das Lager der Tugarenhorde ausgebreitet, während die Heere auf den Ebenen weiter unten gegeneinander anrannten. Der Wald war auf mehrere Kilometer Tiefe abgeholzt worden, um die tugarischen Lagerfeuer zu füttern, und man sah die Baumstümpfe auf den Hügelflanken nach wie vor. Ein kleines Bauerndorf schmiegte sich seitlich an eine Anhöhe; die Behausungen dort bestanden aus tugarischen Jurten, denen man die Rader abmontiert hatte. Die schweren Fellzelte drängten sich um die niedergebrannten Ruinen der früheren Häuser des Dorfes. Der Gedanke, dass heute Menschen in diesen Jurten lebten, war Andrew zunächst unangenehm gewesen, bis er mal einen Abend in einer davon verbrachte. Die für die bis zu zwei Meter siebzig großen Tugaren gebauten Zelte waren geräumig und zu seiner Überraschung bemerkenswert warm.
Andrew bemerkte, dass die Geschwindigkeit wieder stieg. Er trat an die Seite der Plattform, beugte sich nach draußen und erhielt so freie Sicht auf das wundervolle Panorama von Suzdal in der Tiefe. Aus der Ferne verbreitete die Stadt immer noch das Flair einer Märchensiedlung. Die Südhälfte, die die Belagerung überstanden hatte, bildete eine herrliche Mischung aus Zwiebelkuppeln und hohen Häusern aus Holzschindeln, verziert mit fantastischen Farbmustern, alles wiederum beherrscht vom steinernen Turm der Kathedrale, an dem jetzt eine richtige Uhr prangte. Als Andrew mehr nach Norden blickte, konnte er gerade noch die weißen Turmspitzen der Methodisten- und der katholischen Kirche erkennen. Aus dem Stadttor kam eine weitere Lokomotive zum Vorschein, deren Rauch in der stillen Luft weit aufstieg. Als Andrew am eigenen Zug entlang nach vorn blickte, sah er eine Rauchfahne hinter niedrigen Hügeln aufsteigen und den Zug direkt vor ihnen markieren.
Es war ein Wunder, was sie hier aufgebaut hatten, und in seiner Vorstellung sah er die lange Reihe von Zügen in Abstanden von fünfzehn Minuten dahindonnern, Stunde um Stunde. Hätte ich derzeit doch nur Hank Petraccis Ballon zur Verfügung, dachte er; ich könnte zum Himmel aufsteigen und sehen, wie diese lange, dampfgetriebene Karawane nach Osten fährt. Er zog sich wieder ganz auf die Plattform zurück und tadelte sich für diesen Ausflug der Fantasie. Noch immer war
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