Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
er auf Kaufleute, die von Karlon nach
Nor zurückreisten. Sie erzählten ihm, Axis habe den
Thron von Achar zerschlagen und sich selbst zum
Sternenmann von Tencendor ausgerufen. Gilbert
schnaubte verächtlich. Sternenmann von Tencendor? Ein
hochtrabender Titel für die Wiedergeburt einer bösen
Welt.
Die kalte Nachtluft ließ ihn erschauern, und er hüllte
sich fester in seinen Umhang ein. Seit er aus der Hauptstadt entkommen war, hatte er keine allzu große Strecke
Weges hinter sich bringen können. Zur Zeit befand er
sich erst in den nördlichen Regionen von Nor oder
vielleicht auch im Westen von Tarantaise.
Der Bruder fingerte seine Geldbörse hervor. Sorgfältig
darauf bedacht, möglichst wenig auszugeben, hatte er in
den kleinen Dörfern, durch die er gezogen war, verbissen
um Nahrungsmittel und die notwendigen Vorräte
gefeilscht. Er reiste in der Verkleidung eines Angehörigen des niederen Adels – eine Tarnung, die anzunehmen
ihm nicht schwerfiel, denn Gilbert entstammte ursprünglich einer der adeligen Familien Karlons. In diesen
östlichen Landstrichen wäre es wenig klug gewesen, als
Bruder aufzutreten, denn Axis’ Armee und die Unaussprechlichen in seiner Begleitung waren hier bereits
durchgezogen. Die wenigen Händler, die ihm begegneten, berichteten ihm außerdem, daß man im östlichen
Achar die Namen der alten Götter mit zunehmend
frecherer Offenheit im Munde führte.
Der Mönch beugte sich vor und stieß das Brot an,
welches er auf den Kohlen buk. Er besaß kein anderes
Leben als das, das er sich selbst im Seneschall aufgebaut
hatte. Als junger Mann von noch nicht einmal dreißig
Jahren war Gilbert rasch in der Hierarchie der Bruderschaft aufgestiegen. Vor sechs Jahren hatte ihn Jayme zu
seinem jüngsten Berater ernannt, und Gilbert schämte
sich überhaupt nicht, vor sich selbst zuzugeben, daß er
ein Auge auf das Amt des Bruderführers selbst geworfen
hatte. Jayme war ein alter Mann, genau wie Moryson,
und wer eignete sich besser dazu, Jaymes Nachfolger zu
werden, als der vielseitig begabte jüngste Berater?
Natürlich wurde ihm diese Aussicht erschwert, wenn
nicht gar zunichte gemacht, als der Zerstörer von Norden
her in das Königreich einfiel und der Axtherr seine wahre
Natur enthüllte und sich anschickte, sowohl Achar als
auch den Seneschall zu zerschlagen. Nun blieben Gilbert
kaum mehr als seine zerstörten Zukunftsträume, um sich
zu trösten.
Der Bruder saß da und stocherte mutlos in seinem
Brotteig herum, der nicht aufgehen wollte, bis er sich
irgendwann des Umstands bewußt wurde, daß ihn
jemand beobachtete.
Doch blieb er noch vollkommen reglos sitzen, wo er
war, heftete die Augen auf das sich schwärzende Brot
und lauschte angestrengt. Dann schließlich hielt Gilbert
es nicht länger aus.
»Wer ist da?« rief er und versuchte, so tapfer wie
möglich zu klingen.
Wieder nur Stille, dann hörte er ein leises kratzendes
Geräusch, als scharre jemand mit dem Fuß.
»Gilbert?« antwortete eine brüchige, zittrige Stimme.
»Gilbert?«
»Bei Artors Arsch!« fluchte der Mönch und vergaß sich
in solchem Maße, daß er eine Unflätigkeit benutzte, die er
bis dahin nur von Soldaten gehört hatte. »Moryson?«
»Jawohl, ich bin’s«, antwortete der und schlurfte ins
Licht des Feuers.
Gilbert sperrte den Mund auf, als er den alten Mann
sah. Der einstige Berater Jaymes wirkte noch dünner und
zerbrechlicher als gewöhnlich, und seine verschmutzten
Gewänder schlotterten ihm um die hageren Glieder. Die
Bartstoppeln einer Woche bedeckten seine Wangen, und
seine rechte Hand schüttelten Krämpfe, als habe er sich
einen Nerv gequetscht.
»Darf ich mich zu dir setzen?« Moryson sah ganz
danach aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen, und Gilbert wies auf eine Stelle beim Feuer.
Moryson ließ sich dankbar niedersinken. »Du bist ein
Mann, den man nicht so leicht erwischt, Gilbert.«
Der junge Bruder starrte den alten Mann weiter an.
Moryson war der letzte, mit dessen Erscheinen er in
dieser einsamen Nacht gerechnet hätte. »Warum bist du
nicht bei …?«
»Bei Jayme geblieben?« Morysons Stimme klang
jetzt, da seine Beine nicht mehr sein Gewicht tragen
mußten, ein wenig kräftiger. »Warum sollte ich? Weil
sich Jayme letzten Endes als Narr erwiesen hat, Gilbert,
und als Schwächling. Ich mag zwar alt sein, aber ich bin
noch nicht zum Sterben bereit.«
Langsam schloß Gilbert den Mund. Von Moryson
hätte er zuletzt einen Verrat am
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