Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
gestattete, seine samtweiche Nase zu streicheln, bevor er
davonstürmte und ungebunden durch den Zauberwald
zog. Und sie hatte stundenlang bei zwei Frauen gesessen
und mit ihnen gesprochen. Eine der beiden, die mittleren
Alters sein mochte, war in ein sanftblaues Gewand mit
regenbogenfarbener Schärpe gekleidet. Die Mutter. Die
andere, ältere, trug einen roten Umhang und erinnerte
Aschure lebhaft an Orr, den charonitischen Fährmann.
Beide Frauen hatten ihr, jede auf ihre Weise, noch weit
größere Ehrfurcht eingeflößt als der gehörnte Silberpelz.
In der Wärme der Sonne saßen sie auf einer Gartenbank in Urs Waldschule, die vier Frauen und der kleine
Junge. Während die heilige Mutter ihre Hände auf
Caelums Ohren legte, denn es stand ihm nicht zu,
zuzuhören, enthüllte Ur Aschure das Geheimnis der
Schößlinge.
Stumm vor innerer Bewegtheit ergriff Aschure Faradays Hand, und die Frauen saßen eine Weile da und
genossen die Anwesenheit der anderen. Sie lachten, als
das Kind über die Wege der Waldschule krabbelte und
sich der Bedeutung dessen, was es umgab offenkundig
nicht bewußt war. In der gelassenen, tröstlichen Atmosphäre, die sowohl der Garten als auch die Gesellschaft,
in der sie sich befand, ausstrahlten, legte Aschure die
Angst ab, die sie bei den Worten des Gehörnten über ihre
Zwillinge ergriffen hatte. Ganz gewiß würde sie auf der
Insel des Nebels und der Erinnerung endlich auf jede
ihrer Fragen eine Antwort bekommen.
»Ich wurde gesegnet«, flüsterte sie Caelum ins Ohr,
als sie den Narrenturm hinter sich gelassen hatten und
einen erleichterten Hesketh, die halbe Palastgarde und
Sternenströmer begrüßte, der sich gerade hatte anschikken wollen, ihr in den Turm zu folgen.
14 B ÄUERIN
R
ENKIN GEHT
AUF DEN
M
ARKT
Die Bäuerin Renkin schüttelte ihre schweren wollenen
Röcke aus und ließ sich dankbar auf einem Schemel
neben der Schafherde nieder. Um sie herum herrschte das
fröhliche Treiben des Marktplatzes von Tare. Heute
wurde einer der wichtigsten Markttage im südlichen
Achar abgehalten – Tencendor, ermahnte sie sich –, und
in ganz Tare drängten sich die Händler und Bauern, die
gekommen waren, um zu kaufen und zu verkaufen oder
auch nur zu schauen und den neuesten Klatsch auszutauschen.
Bäuerin Renkin lehnte sich gegen die Steinmauer, vor
der sie saß, und schloß die Augen. Sie hatte ihr kleines
Gehöft im nördlichen Arkness vor fünfzehn Tagen
verlassen und ihre achtundzwanzig Tiere zählende
Schafherde ohne große Eile vorwärtsgetrieben, so daß sie
sich unterwegs auf den sanft geschwungenen Wiesen der
Hochebenen ihr Futter suchen konnten. Unter normalen
Umständen hätte ihr Gatte die Schafe zum Markt
gebracht, aber der arme Mann litt unter solch schlimmen
Hühneraugen an all seinen Zehen, daß Frau Renkin an
seiner Stelle aufgebrochen war.
Sie seufzte erleichtert auf und flocht die Finger vor
ihrem beeindruckenden Leib ineinander. Sie freute sich,
ihrem Mann und ihrer zahlreichen Nachkommenschaft
entkommen zu sein. Sie liebte sie von ganzem Herzen,
aber seit vor zwei Jahren diese feine Dame in ihrem
Bauernhaus übernachtet hatte, plagten seltsame Träume
voller Aufregung und Abenteuer Frau Renkin – und in
ihrem abgeschiedenen Leben im nördlichen Arkness gab
es recht wenig Abenteuer und Aufregung.
Also hatte die Bauersfrau die Zehen ihres Mannes
verarztet, sie in mit Kräutersud getränkte kühlende
Umschläge gewickelt, ihre älteste Tochter darin unterwiesen, sich um die jüngeren Kinder zu kümmern, und
sich dann mit ihren Schafen gut gelaunt auf den Weg
gemacht. Es handelte sich um prachtvolle Tiere mit
lebhaften Augen, und allesamt waren sie trächtig. Die
Bäuerin rechnete damit, einen guten Preis für sie zu
erzielen. Nicht daß sie oder ihr Mann das Geld dringend
gebraucht hätten. Seit dem Tag, als ihnen die Dame
Faraday – möge ihr auf immer Glück beschieden sein –
das goldene, mit Perlen besetzte Halskettchen als
Bezahlung für die Vorräte überlassen hatte, die sie und
ihre Begleiter mit nach Norden nahmen, lebten die
Renkins so bequem und ohne Not, daß ihre Nachbarn sie
beneideten.
»Die edle Faraday«, flüsterte die Bäuerin vor sich hin.
Sie fragte sich, was aus der vornehmen jungen Frau
geworden sein mochte, nachdem sie das Haus der
Renkins verlassen hatte.
Sie öffnete die Augen und ließ den Blick kurz über
den Marktplatz schweifen. Der Platz war gut besucht,
nicht nur von
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