Das Vermächtnis
„Hägsmagie!“, war ihr letzter klarer Gedanke gewesen. Dann waren ihre Sinne plötzlich ganz benebelt. Sie konnte nicht mehr denken und nichts mehr fühlen. Sie war nur noch eine leere Hülle ihrer selbst … oder verwandelte sie sich etwa gerade in jemand anders? Ihr Magen zwickte und ein undeutlicher Gedanke meldete sich: „Werde ich jetzt eine Dämonin?“ Siv spürte, wie der Nachtwind durch ihre Federfransen fuhr und sie zerzauste. Sie schaute an sich hinunter und stellte bestürzt fest, dass ihr braunes, weiß geflecktes Gefieder sich schwarz färbte. „Nein!“, schrie sie auf.
Sie verwandelte sich aber nicht wirklich in eine Dämonin, sondern ein Hägs Ga’ drohte sie zu überwältigen. Siv wehrte sich mit aller Kraft dagegen, dass ein Dämon von ihr Besitz ergriff. Doch ihr Gefieder sah nur in ihren eigenen Augen anders aus. Für jeden anderen Betrachter war sie äußerlich unverändert. Das Ga’ in ihrem Magen begehrte auf. Es gelang ihr, ihre Benommenheit abzuschütteln und sich auf die Dämonen zu stürzen. Im selben Augenblick war ihr Bild in den Flammen erloschen und ich hatte nur noch blutige Schneeflocken gesehen.
Erst viel später erfuhr ich, dass sie nicht tot war, aber schwer verwundet. Die Dämonen hatten ihr die Spitze des Backbordflügels abgerissen. Siv hatte kaum noch fliegen können. Um ihr zu helfen, hatte Myrrthe ein Kronkenbott aufgebaut. Das war ein Flugvakuum, in dem man üblicherweise verwundete Krieger vom Schlachtfeld abtransportierte. Für ein Kronkenbott braucht man eigentlich mindestens zwei Eulen, aber wenn Myrrthe sich etwas in den Kopf setzte, gelang es ihr auch. Die Schnee-Eulen aus dem hohen Norden sind für ihre Sturheit berüchtigt.
„Keine Bange, Herrin, ich schaff das schon. Der Achterwind schiebt uns an.“ Myrrthe richtete ihre seitlichen Schwanzfedern und ihre Handschwingen so aus, dass ein windstiller Luftraum entstand, der die verletzte Siv gleichsam einsaugte und mitzog.
Der Wind stand auch in anderer Hinsicht günstig, denn er kam vom Meer. Hägsdämonen sind stark und mächtig, aber vor Salzwasser fürchten sie sich wie vor nichts anderem. Salzwasser kann ihnen ernsthafte Wunden zufügen. Sie können sogar den sogenannten Salztod sterben. Dämonen können ihre Federn nämlich nicht einfetten, sodass sie wasserabweisend werden. Das Salzwasser dringt ihnen im Nu bis auf die Haut. Im kalten Wind vereisen ihre Flügel und die Dämonen stürzen ins Meer.
Deshalb hielten Myrrthe und Siv auch nach einer jener Felshöhlen am Ufer eines Fjordes Ausschau, in die das Wasser hineinschwappte. Die meisten landeinwärts gelegenen Fjorde waren nicht zugefroren. Myrrthe war vom Meer aus in den Reißzahnfjord eingebogen.
„Immer noch nichts?“, fragte Siv schwer atmend.
„Leider nein, Herrin.“ Myrrthe bog noch einmal ab, diesmal in einen schmalen Fjord, der bis zum H’rathgar-Gletscher hochführte. Kleiner N’or-Fjord hieß er, glaubte sie sich zu erinnern. Er floss durch eine tiefe, enge Schlucht und fror nur bei der allerstrengsten Kälte zu. Trotzdem verirrte sich aufgrund der Strömung dann und wann ein Eisberg hinein.
„Was haltet Ihr davon, wenn wir auf einem Eisberg landen, Herrin?“
„Ach, meine liebe Myrrthe …“ Trotz ihrer Schmerzen raffte sich Siv zu einem Witzchen auf. „So, wie ich mich gerade fühle, wäre mir sogar ein Möwennest willkommen.“
Myrrthe schnappte nach Luft. Ihre vornehme Gebieterin wollte sich ins Nest eines Schleimpupsers setzen?
„So schlimm wird es schon nicht kommen, Herrin“, sagte sie rasch.
Sie begutachtete den Eisberg, der unter ihnen im Wasser trieb. An manchen Stellen bildete das Eis Überhänge, unter denen sich Nischen und Höhlen befinden konnten.
Sie hatten ohnehin keine Wahl. Siv musste sich dringend ausruhen. Auch Myrrthes Flügel schmerzten. Die ganze Zeit die Federn abzuwinkeln, um das Kronkenbott aufrechtzuerhalten, war furchtbar anstrengend.
„Wir landen“, verkündete sie. „Ihr tut gar nichts, Herrin. Rührt Euch nicht von der Stelle.“
„Selbst wenn ich das wollte, ich könnte es gar nicht, meine Gute.“
Im Sinkflug erkannte Siv, dass es sich bei dem Eisberg um ein wahrhaft prächtiges Exemplar handelte. „Der Eisberg aller Eisberge“, wie sie sich später ausdrückte. Wind und Wetter hatten ihn geschliffen und ausgehöhlt.
„Hier sind wir sicher!“, keuchte sie. „Das sagt mir mein Magen und ich spüre es auch in den Federn – beziehungsweise in dem, was von meinen Federn
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