Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Lasky
Vom Netzwerk:
noch übrig ist.“
    Es dauerte nicht lange, bis Myrrthe eine geeignete Höhle gefunden hatte. Der Boden lag knapp unterhalb der Fjordoberfläche. Das Salzwasser schwappte hinein und hinaus. Kein Hägsdämon würde sich hier hineinwagen. Siv konnte in aller Ruhe wieder gesund werden.
    Aber wozu? , ging es ihr durch den Kopf. Mein Ei ist fort. Mein Küken schlüpft irgendwo in einem Nest, das nicht von mir gebaut wurde. Ich werde meinen Sohn vielleicht niemals kennenlernen. Sie riss sich zusammen. Ich muss wieder gesund werden, sonst bin ich meinem Kind und meinem Königreich keine Hilfe. Wenn ich meinem Sohn irgendwann vielleicht doch begegne, muss ich bei Kräften sein!
    Ihr Backbordflügel war übel zugerichtet. Der vordere Teil fehlte. Von den meisten Flugfedern waren nur noch abgebrochene Stummel vorhanden.
    Myrrthe blieb keinen Augenblick lang untätig. Als Erstes musste sie die Blutung stillen. Sie schichtete Schnee auf Sivs Flügel.
    „Tut das gut!“, sagte Siv. „Glaubst du, ich werde je wieder fliegen können?“
    „Ganz bestimmt, Herrin. Stellt Euch einfach vor, Ihr wärt besonders stark in der Mauser.“
    Siv grinste schief, doch dann verzog sie das Gesicht. „Leg noch mehr Schnee drauf, Myrrthe. Das betäubt den Schmerz.“
    „Mache ich. Und Eis, das hilft noch besser.“
    Das Eis linderte die Schmerzen tatsächlich. Die Blutung versiegte. „Kannst du dich noch daran erinnern, wie du dich zum ersten Mal gemausert hast, Myrrthe?“, fragte Siv.
    „Ob ich mich an meine erste Mauser erinnere? Ich bin schon alt, Herrin. Das ist ewig her.“
    „Vielleicht bekommt man als Schnee-Eule die Mauser ja gar nicht richtig mit. In einem Land wie N’yrthgar sieht man die weißen Federn doch kaum.“
    „Als Jungvögel sind wir Schnee-Eulen aber noch nicht weiß, sondern eher schmutzig grau.“
    „Ich erinnere mich noch gut an meine erste richtige Mauser“, sagte Siv versonnen. „Natürlich hatte ich schon vorher ein paarmal das Dunenkleid gewechselt, aber das zählt nicht. Als mir meine ersten richtigen Federn ausgefallen sind, bin ich zu Tode erschrocken. Ich war gerade erst flügge geworden und fühlte mich sehr erwachsen. Ich war so froh, dass ich meinen Kükenflaum endlich los war und Handschwingen, Armschwingen und Fransen hatte wie die Erwachsenen. Dann lag auf einmal eine braune Feder auf dem Boden …“ Siv sprach immer undeutlicher.
    „Ihr seid müde, Herrin. Schlaft ein wenig.“
    „Ja … ich will schlafen …“
    „Denkt an Eure Großtante Agathe. Die ist auch wieder gesund geworden.“
    „Stimmt …“
    Siv hatte lange nicht mehr an ihre Großtante gedacht. Agathe war einst über dem Bittermeer von Hägsdämonen angegriffen worden. Dabei hatte sie gleich an beiden Flügeln schwerste Verletzungen davongetragen. Agathe war eine gefürchtete Kriegerin gewesen. Doch nach ihrer Verwundung hatte sie nie mehr an der Spitze eines Heeres fliegen können. Man hatte ihr stattdessen das Kommando über ein Eisdolch-Regiment übertragen. Sie brachte sich bei, mit dem zweischneidigen Dolch zu kämpfen. Diese Spezialwaffe passte sich ihrer Behinderung hervorragend an. Der berühmte krakische Wahlspruch: „Cintura Vrulcrum – Niykah Kronig!“, bezog sich auf Agathe, denn er bedeutete: „Jede Wunde ist eine Chance – jedes Unheil kann eine Bereicherung sein!“
    Ich muss wieder gesund werden. Es gibt so viel zu tun … Siv war eingeschlafen.
    „ Ich brauche Fisch!“, verkündete sie beim Aufwachen. Myrrthe nahm diese Bemerkung mit gemischten Gefühlen auf. Natürlich war sie überglücklich, dass ihre Herrin hungrig war. Das war ein gutes Zeichen. Gleichzeitig verzagte ihr Magen. Wo soll ich als Schnee-Eule Fisch herbekommen? Ich bin doch kein Fischuhu!
    „Ganz recht, Herrin. Fischtran gilt als das beste Mittel, um gesplitterte Federkiele zu kräftigen.“
    „Red nicht so viel. Kannst du mir welchen beschaffen?“ Siv bekam sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie so unwirsch mit ihrer treuen Dienerin sprach. Die pochenden Schmerzen in ihrem Flügel waren keine Entschuldigung dafür. „Tut mir leid, Myrrthe. Es war nicht so gemeint. Ich weiß genauso wenig wie du, wie man Fische fängt. Verzeih mir, dass ich so unfreundlich war.“
    „Schon gut, Herrin. Ich muss nur kurz überlegen.“
    „Lass dir ruhig Zeit, Myrrthe.“

Myrrthe war im Lauf ihres Lebens etlichen Fischuhus begegnet. Wie stellten es diese Vögel an, sich ins Wasser zu stürzen und mit einem dicken Fisch im Schnabel wieder

Weitere Kostenlose Bücher