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Das Vermächtnis

Das Vermächtnis

Titel: Das Vermächtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathryn Lasky
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dann Junge bekommt, bleiben sie so lange bei ihr, bis sie allein leben können.“
    „Hast du schon mal Junge gehabt?“
    „Noch nicht. Aber bald.“ Svenka stieß sich ab, wälzte sich im Wasser auf den Rücken und klopfte sich auf den Bauch. „Zwei oder vielleicht sogar drei.“
    „Da drin?“
    „Wir Eisbären sind keine Vögel. Wir legen keine Eier. Unsere Jungen schlüpfen auch nicht, sondern werden aus dem Leib der Mutter geboren.“
    Myrrthe legte nachdenklich den Kopf schief. „Eigentlich praktisch. Man spart sich den Nestbau und das lange Brüten. Und man hat seine ungeborenen Jungen immer bei sich. Das finde ich viel besser als bei uns. Man könnte sich fast wünschen …“
    „Lass gut sein, Myrrthe. Du bist nun mal ein Vogel. Der große Glaux, wie ihr Eulen den Großen Geist nennt, wird schon wissen, was für jede Tierart das Beste ist.“
    „Wie nennt ihr Eisbären denn euren Glaux?“
    „Ursa, aber der Name spielt keine Rolle. Es gibt nur einen einzigen Großen Geist, der über alle Tiere wacht.“
    „Das verstehe ich nicht. Das musst du mir erklären.“
    „Wollen wir das jetzt wirklich vertiefen? Willst du nicht lieber deiner Herrin die Fische bringen?“
    „Ach so. Da hast du natürlich Recht.“
    Myrrthe brachte Siv die Fische. Doch bei der nächsten Gelegenheit setzte sie ihre Unterhaltung mit Svenka fort. Die Eisbärin und die Schnee-Eule führten eine ganze Reihe philosophischer Gespräche – bis Myrrthe eines Nachts verschwand.

Siv konnte von jener furchtbaren Nacht nicht berichten, ohne in Tränen auszubrechen. „Alles lief so gut, Gränk! Mein Flügel heilte, Myrrthe hatte Fischen gelernt, und dann …“ Sie konnte einen Augenblick lang vor Schluchzen nicht weitersprechen.
    „Ich habe sie angefleht, bei mir zu bleiben. Die Lemminge haben doch im Winter weißes Fell. Myrrthe konnte sie im Schnee gar nicht sehen! Aber sie bestand darauf, dass ich rotes Fleisch fressen müsse, um wieder ganz gesund zu werden.“
    Myrrthe, lieber Eulenleser, wusste alles über Lemminge. Sie kannte die Reviere und Wanderwege der gedrungenen Tierchen. Sie wusste, dass Lemminge ihre Bauten dicht unter dem Tundraboden anlegen, wo die Erde noch nicht gefroren ist. Lemminge halten keinen Winterschlaf. Sie sammeln das ganze Jahr über Futter, fressen unablässig und tun das, was sie am besten können: Junge bekommen. Keine Tierart vermehrt sich schneller als die Lemminge. Myrrthe fand das ziemlich unvernünftig, denn ihre große Zahl war das Verderben der kleinen Nager. Alle vier Jahre waren die Baue überfüllt. Dann schwärmten die Lemminge aus und suchten sich neue Reviere. Doch sie überlegten sich vorher nicht, wo sie hinwollten, sondern liefen zu Tausenden aufs Geratewohl los. Dabei kam es immer wieder vor, dass ganze Gruppen ins Meer stürzten. Die Lemminge lernten nichts daraus. Nach vier Jahren war es wieder das Gleiche.
    Unweit des kleinen Fjordes, am Fuß des H’rathgar-Gletschers, lebte eine Lemmingsippe, deren Baue zum Bersten voll waren. „Sieben Würfe pro Jahr und elf Junge pro Wurf – es müssen inzwischen Hunderte sein!“, hatte Myrrthe gemeint.
    Sie war bei Vollmond aufgebrochen. Die Nacht war windstill und der Fjord spiegelglatt. Siv war früher oft mit ihrer Dienerin auf Lemmingjagd geflogen. Myrrthe würde nach den Bodenverwerfungen Ausschau halten, die entstanden, wenn die Erde im Kreislauf der Jahreszeiten auftaute und wieder gefror. Die dabei entstandenen Hügel und Senken gaben den Lemmingen den Weg für ihre Wanderungen vor. „Ich bringe Euch einen saftigen Burschen mit, Herrin“, hatte sie Siv versprochen.
    Als der nächste Morgen dämmerte, war Myrrthe noch nicht zurückgekehrt. Ernsthaft Sorgen machte sich Siv aber erst um die Zwischenstunde, als das letzte Tageslicht in die violette Abenddämmerung überging. Die Tage waren um diese Jahreszeit ohnehin kurz, darum war Siv das Warten nicht allzu schwer gefallen. Doch jetzt überkam sie ein ungutes Gefühl. Es war nicht Myrrthes Art, ihre Herrin so lange mit leerem Magen dasitzen zu lassen. Ihr musste etwas zugestoßen sein.
    Siv konnte ihre Sorge mit niemandem teilen, denn Svenka war fortgeschwommen. Lieber Glaux , dachte sie, bitte lass es nicht wahr sein! Erst verliere ich meinen Gemahl, dann muss ich mein Ei hergeben, und nun ist auch noch meine liebste und treueste Freundin verschwunden.
    Myrrthe war für Siv viel mehr als nur eine Dienerin. Wenn sie nicht wiederkommt, werde ich nicht aus Mangel an Futter,

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