Das Vermächtnis
herauszukommen? Myrrthe war sich ziemlich sicher, dass man von hoch oben in den Sturzflug gehen und steil eintauchen musste. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatte, trat sie an den Rand der Eishöhle und spähte ins Wasser. Wahrscheinlich musste man die Augen beim Eintauchen offen lassen. Keine angenehme Vorstellung!
„Ich versuch’s dann jetzt mal, Herrin.“
„Viel Glück!“, sagte Siv, doch Myrrthe schraubte sich bereits in die Luft.
Sie probierte es nicht einmal, sondern zweimal, dreimal und viermal. Sie hielt die Augen unter Wasser offen, aber sie sah nicht einen einzigen Fisch, nur lauter Luftblasen. Das aufgewühlte Wasser donnerte in ihren Ohrschlitzen.
Als sie zum fünften Versuch ansetzte, hörte sie jemanden rufen.
„Falsch!“
Myrrthe bremste mitten im Sturzflug ab, flog wieder aufwärts und landete oben auf dem Eisberg.
„Wer ist da?“ Als sie sich umschaute, sah sie niemanden. Nur ein zweiter Eisberg trieb heran. Plötzlich bäumte sich der Eisberg auf und schüttelte eine pelzige Pranke. Myrrthe blinzelte ungläubig.
„Dein Eintauchwinkel ist zu steil.“ Der vermeintliche Eisberg war eine Eisbärin. Myrrthe hatte schon öfter Eisbären von Weitem gesehen. Sie hatte aber noch keine nähere Bekanntschaft mit einem dieser Furcht einflößenden Räuber geschlossen und schon gar nicht mit einem gesprochen. Überhaupt blieb in N’yrthgar jede Tierart lieber für sich. Die Bärin legte die Vordertatzen auf den Rand des Eisbergs und schaute aus tief liegenden braunen Augen zu der Schnee-Eule hoch. Durch ihr Gewicht kippte der Eisberg nach vorn. Myrrthe kam ins Schlittern und grub die Krallen ins Eis.
Sie staunte, wie riesig die Bärin war. Ein echter Byggenbrocken, wie man in N’yrthgar sagte. Dabei konnte Myrrthe nur den Oberkörper sehen, der aus dem Wasser ragte. Der Pelz der Bärin war dicht und gelblich weiß. Die Haut darunter war kohlschwarz. Schultern und Hals waren mit gewaltigen Muskeln bepackt. Wenn so ein Bär mit Schwung auf einen Eisberg losschwamm, konnte er ihn bestimmt in zwei Hälften spalten! Die kurzen runden Ohren der Eisbärin fand Myrrthe reizend.
„Wenn du mich genug angegafft hast, könnte ich dir ein paar Tipps geben, wie man Fische fängt“, sagte die Bärin.
„Entschuldige bitte! Ich wollte nicht unhöflich sein“, sagte Myrrthe hastig.
„Hast du noch nie einen Eisbären gesehen?“
„Nicht aus dieser Nähe.“
„Tja, einmal ist immer das erste Mal“, sagte die Bärin. Ihr Ton wurde umgänglicher. „Möchtest du wissen, was du falsch machst?“
„Ja bitte.“
„Ganz einfach – du bist nicht groß und schwer genug, um in die Tiefe zu tauchen, wo die großen Fische sind. Halte dich lieber an die kleineren, die unter der Oberfläche schwimmen: Heringe, Silberlinge und Blauschuppen.“ Die Eisbärin fuhr mit der Pranke durchs Wasser und warf ein Häufchen zappelnder bläulicher Fische auf den Eisberg. Myrrthe war baff.
„Blauschuppen“, sagte die Bärin lässig. Sie stupste die Fische mit der Schnauze ein Stückchen höher, damit sie nicht wieder ins Wasser rutschten. „Sie laichen gerade. Sie werden deiner Königin guttun.“
„Du … du weißt …?“
„Keine Sorge. Ich verrate euch bestimmt nicht. Und wie dir vielleicht schon aufgefallen ist, hat dieser Fjord ohnehin nicht viele Bewohner. Genau genommen lebe nur ich hier.“
„Darf ich fragen, wie du heißt?“
„Ob du mich das fragen darfst? Ihr Eulen drückt euch immer so herrlich umständlich aus! Ich heiße Svenka. Und du?“
„Myrrthe. Ich habe meiner Herrin schon gedient, ehe sie Königin wurde. Anfangs war ich ihr Kindermädchen und dann ihre Erzieherin.“
„Euer König ist gefallen, nicht wahr?“
„Richtig.“ Das Ei erwähnte Myrrthe vorsichtshalber nicht.
„Hast du zufällig gehört, was derzeit im Kriegsgebiet vor sich geht?“, fragte sie.
„Viel weiß ich nicht. König H’rath ist tot. Fürst Arrin ist ins H’rathgar-Gebirge vorgedrungen. Seine Kundschafter zwingen unbeteiligte Jungeulen, in sein Heer einzutreten. Mehr kann ich dir leider nicht sagen. Ich bleibe sowieso lieber für mich und halte mich von all dem fern.“ Svenka machte eine ausholende Prankengebärde, als wollte sie sagen, dass die ganze Eulenwelt sie nichts anging.
„Und warum bleibst du lieber ganz für dich?“, fragte Myrrthe.
„Wir Eisbären sind Einzelgänger. Nur in der Paarungszeit suchen wir uns einen Gefährten. Danach trennen wir uns wieder. Wenn eine Eisbärin
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