Das Vermächtnis
sondern aus Mangel an Zuneigung sterben! Ein verletzter Flügel kann heilen, aber können sich ein gebrochenes Herz und ein gebrochener Magen je wieder erholen?
Zwei Tage verstrichen. Von Myrrthe fehlte jede Spur. Siv ging es von Tag zu Tag schlechter. Sie konnte immer noch nicht fliegen, und zu fressen hatte sie auch nichts mehr. Seltsamerweise verspürte sie keinen Hunger – nur überwältigende Einsamkeit, denn auch Svenka war nicht wieder aufgetaucht. Wo steckte die Eisbärin bloß?
Bei Sonnenaufgang des dritten Tages streckte Svenka plötzlich den mächtigen Kopf aus dem Wasser. Als Siv den trüben Blick der Bärin sah, wusste sie, dass etwas Schlimmes passiert war.
„Hast du deine Jungen verloren, Svenka? Sind sie tot zur Welt gekommen?“
Svenka schüttelte den Kopf. Siv öffnete wieder den Schnabel, brachte aber keinen Laut heraus. Die Frage wollte ihr nicht über die Zunge.
„Myrrthe kommt nicht zurück“, sagte Svenka mit belegter Stimme.
„Ist sie … ist sie tot?“
Svenka nickte stumm.
„Woher weißt du das?“
Die Bärin legte eine schneeweiße Deckfeder vor Siv auf das Eis. Siv sagte entschieden: „Myrrthe ist bestimmt nur in der Mauser. Sie mausert sich sehr unregelmäßig.“
„Nein. Ich habe sie gefunden.“
„Gefunden?“
„Sie war mitten durchgerissen.“
Siv blinzelte die Tränen weg, die ihr in die Augen schossen. „Hägsdämonen! Nur Hägsdämonen töten auf diese Art.“ Sie hatte unwillkürlich die Federn angelegt, doch nun plusterte sie sich zur Drohhaltung auf.
„Erzähl mir alles. Lass nichts aus! Nur so kann ich Myrrthe die letzte Ehre erweisen, wie ich es auch bei meinem geliebten Gatten getan habe. Sie ist um meinetwillen gestorben, nicht wahr?“
„Das nehme ich an.“
„Woher hast du gewusst, wo du suchen musst?“
„In der Nacht von Myrrthes Aufbruch bekam ich plötzlich unwiderstehlichen Appetit auf Sardellen. Schwangere Eisbärweibchen haben oft solche Gelüste. Die besten Sardellen gibt es um diese Zeit am H’rathgar-Gletscher. Deshalb bin ich dorthin geschwommen.“
„ Ich war so gierig nach diesen Sardellen, dass ich mich richtig dafür schäme.“
„Das musst du nicht“, sagte Siv. „Du hast deine ungeborenen Kinder ernährt. Das ist keine Gier, das ist mütterliche Fürsorge.“
„Mag sein … Jedenfalls sah ich plötzlich über mir etwas Dunkles, als ich mich zum Verdauen im Wasser auf den Rücken drehte. Erst hielt ich es für eine heranziehende Gewitterwolke, aber dann glitten auf einmal lauter schwarze Gestalten hoch oben über den Fjord. Weißt du noch, wie windstill die Nacht war, in der Myrrthe losgeflogen ist?“
Siv nickte.
„Es ging immer noch kein Wind. Der Mond stand im vollen Schein und die schwarzen Umrisse spiegelten sich im glatten Wasser. Es war ein eindrucksvoller Anblick, aber ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl. Meine Kleinen strampelten und traten mich in den Bauch, als spürten sie, dass ich mich fürchtete. Ich wusste ja, dass Myrrthe Lemminge jagen wollte. Ich habe gehört, wie du sie gebeten hast dazubleiben. Aber sie hatte Recht, du brauchst jetzt rotes Fleisch.“
„Nein, nein.“ Siv schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Ich kletterte an Land und folgte den Flugwesen bis zum Gletscher. Dort war es, als sei der Berg lebendig geworden. Seine Flanken schienen sich zu heben und zu senken, als atmete er. Die Lemminge in ihrem schneeweißen Winterfell waren ausgeschwärmt. Wer das einmal gesehen hat, vergisst es so schnell nicht wieder.
Über den Lemmingen flog Myrrthe. Immer wieder ging sie in den Sturzflug und packte einen der Nager. Dann teilten sich die Lemminge wie Wasser, das um ein Hindernis herumfließt. Sie gerieten aber keineswegs in Panik. Ihre kleinen Nagerhirne schienen nur einen Gedanken zu kennen: in Bewegung bleiben. Ohne Ziel, ohne Plan, Hauptsache weiter, weiter, weiter. Sie waren keine Einzelwesen mehr, sondern nur noch eine wogende Masse. Und damit für Myrrthe eine leichte Beute.
Doch anders als die Lemminge war Myrrthe sich der nahenden Gefahr sofort bewusst. Sie schwenkte hart nach Backbord und wollte zum Fjord zurückfliegen.“
„Ach, wäre sie doch nur hiergeblieben und hätte weiter nach Fischen getaucht!“, rief Siv aus. „Über dem offenen Salzwasser hätten sich die Dämonen niemals auf sie gestürzt.“
„Das stimmt wohl. Über dem Gletscher hatte Myrrthe jedenfalls keine Chance. Sie war im Nu umzingelt. Ich bin sofort losgestürmt. Die große Ursa allein weiß, wie
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