Das Vermaechtnis
Mutter gefragt und meine Brüder wissen es auch nicht. Wieso ist das Jahr genauso lang, wie es ist und woher weiß man das. Sie sagen mir immer nur, dann musst du die Priester fragen, aber dazu bin ich noch zu klein. Oder sie sagen, ich soll gleich selbst Priesterin werden, weil ich immer alles genau wissen will und sie mir nichts richtig antworten können.
Ich will das wissen, weil ich in einem Monat geboren bin, der manchmal gar nicht da ist. Da sagen meine Eltern, dass mein Geburtstag zwischen zwei Monaten liegt und in manchen Jahren eben nicht sichtbar ist. Ich habe dann einfach nicht Geburtstag. Alle haben jedes Jahr Geburtstag. Meine Eltern sagen, sie könnten daran auch nichts ändern, weil das unser König Nebukadnezar bestimmt“, sagt sie. Sie hat ein für Mädchen in diesem zarten Alter sehr ungewöhnliches Denken. Selbst die größeren Jungen starren sie an und scheinen nicht genau zu wissen, von was sie eigentlich redet.
Tanobakt lächelt sie freundlich an und sagt:
„Das, was ich weiß, will ich dir gern erklären, doch dann will ich hinüber zu meinem Stand, denn es ist schon wieder sehr voll hier. Ich komme mit meinem Humpelbein sonst nicht auf die andere Seite der Straße! Nein, ich meine natürlich nur, dass ich dann wieder ans Verkaufen denken muss. Ihr könnt mich aber gern besuchen, wenn nicht so viele Käufer am Stand sind, dann will ich gern eure Fragen weiter beantworten, wenn euch noch etwas einfällt.
So, aber nun zu dir. Das Jahr – die Monate – die Wochen – die Tage – die Stunden . Wie hängt das alles zusammen? Sternenpriester haben jeden Tag und jede Nacht den Himmel beobachtet, so, wie sie es jetzt immer noch tun. Sie haben dadurch festgestellt, dass sich am Himmel und auf der Erde bestimmte Dinge wiederholen und dies schriftlich festgehalten. So hat man zum Beispiel die besten Zeiten für Aussaat und Ernte herausgefunden. Auf diese Art kann für jedes Vorhaben die günstigste Zeit ermittelt werden.
Doch fange ich mit dem Tag an – er dauert von einem Sonnenuntergang bis zum nächsten. Wir haben solch einen Tag in zwei Teile geteilt, in den Tag und in die Nacht. Und diese jeweils auch in zwei Teile, also haben wir noch den Mittag und die Mitternacht.
Den ganzen Tag teilen wir in zwölf gleich große Teile, wie nennen wir solch einen Teil?“
„ Beru nennen wir es“, sagt ein größerer Junge.
„Genau! Du weißt auch sicher, in wie viele Teile wir ein beru teilen.“
„In 30 Teile, die wir usch nennen, und die teilen wir wieder in 60 Teile, die ninda – das ist der kleinste Teil eines Tages“, erklärt der Junge weiter.
„Bestens! Dabei fällt auf, dass wir meist in einem System mit 60, also gesch , rechnen, das sich recht gut dafür eignet.
Wichtig sind zudem der Mond, der Planet des Gottes Sin und die Sonne, der Planet des Schamasch . Ein Monat beginnt also, wenn zum Abend die dünne Mondsichel zum ersten Mal sichtbar wird, dann wird der Mond von Tag zu Tag voller bis er komplett rund erleuchtet. Dann wird er von Tag zu Tag wieder weniger. Das dauert etwa 29 oder 30 Tage.
Ich hatte vor kurzem mit einem Sternenpriester gesprochen, der mir sagte, dass sie dabei sind, den genauen Wert der Mitte zu errechnen. Er meinte, es seien wohl etwas über 29,5 Tage, aber, wie gesagt, die genaue Zahl kommt noch. Es fehlen dazu wohl noch Messungen. Ich bewundere es sehr, wie sie alles ausrechnen können, vor allem ihre Geduld.
Manchmal stehen Wolken am Himmel, daher hat man sich darauf geeinigt, einfach 30 Tage anzunehmen. Nach zwölf Monaten kommen wir etwa zu dem Zeitpunkt, von dem an sich die Jahreszeiten wiederholen, zum Frühlingsanfang.
Leider stimmt das Jahr, wenn die Monate genau nach dem Mondlauf gerechnet werden, nicht ganz mit dem Sonnenjahr überein. Der Sonnenlauf in einem Jahr bestimmt nun einmal die Jahreszeiten. Also fehlen zu einem runden Jahr etwa elf Tage. Diese Unstimmigkeit gleichen wir wieder aus, indem wir etwa alle drei Jahre einen Monat einfügen, entweder nach dem sechsten oder nach dem zwölften Monat im Jahr.
Und du, kluges Mädchen, wirst in einem Jahr mit einem zusätzlichen Monat geboren worden sein. Du siehst, das ist schon etwas ganz Besonderes!“ Er streicht ihr über die Haare und sie nickt jetzt mit einem stolzen wissenden Lächeln. „Zwei Jahre liegt dein Geburtstag tatsächlich zwischen zwei Monaten und im dritten Jahr kannst du dich wieder über deinen Geburtstagstag freuen.
Ganz genau festgelegt ist dieser Rhythmus noch nicht.
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