Das Vermaechtnis
stürzenden Körper. In letzter Sekunde packte er ihren Arm. Sie war unschuldig! Sie durfte nicht sterben! Ihr Schrei drang ihm durch Mark und Bein, und er sah die Todesangst in ihren weit aufgerissenen Augen. Die gleichen grünen Augen, die ihn vor wenigen Stunden voll Liebe und Leidenschaft angesehen hatten. Mit jedem Atemzug spürte er, wie ihre Finger weiter durch seine Hände glitten. Wie seine Kraft nicht ausreichte, sie zurück über die Brüstung zu ziehen. Zentimeter für Zentimeter rutschte sie weiter in die Tiefe. Aus seiner Kehle entstieg vor Verzweiflung ein Schrei, als sie den Halt verlor und in die todbringende Tiefe hinabstürzte.
Er verschloss die Augen vor dem Bild ihres Körpers, der hart auf den Felsen aufschlug, und ließ sich stattdessen rückwärts zu Boden gleiten. Er zitterte.
Auch er war in dieser Nacht hier oben gestorben. Er war sich selbst ein Fremder, als er die Stufen hinabstieg, um dem Kampf, den Männern und dem Hass den Rücken zu kehren.
Ein einziger Gedanke hielt ihn aufrecht:
„Ich brauche dich, Sam! Rette mich! Bitte vergib mir und rette mich!“ Als Payton die Augen öffnete, fühlte er sich, als hätte er eine Schlacht geschlagen. Er war am Ende seiner Kräfte und zitterte am ganzen Körper, während sein Herz das Blut nicht schnell genug durch seine Adern pumpen konnte. Immer wieder tanzten ihm helle Punkte vor Augen und trübten seine Sicht.
Er war auf einem Boot. Sein Kopf war schwer, und er rieb sich die Schläfen. Warum war er auf einem Boot?
„ Ciamar a tha thu ?“, drang die Stimme von Beathas an sein Ohr. Wie es ihm ging? Er blinzelte. Der Himmel über ihm hieß gerade die Nacht willkommen, und der Übergang von Dunkelblau zu Schwarz war fließend.
Langsam setzte Payton sich auf. Das Boot war einem nordischen Langboot nicht unähnlich, auch wenn kein Drachenkopf die Spitze zierte und die Segel aus einfarbigem Tuch wenig Furcht einflößend wirkten. Auf mehreren Bänken saßen Männer in den Riemen und brachten sie voran.
Ganz in sich selbst versunken saß ihm Beathas gegenüber und lächelte. Die alte Frau schien eins zu sein mit der Natur und beinahe mit den Wellen und dem Wind in den Segeln zu verschmelzen. Ihr Haar hob sich in die Lüfte, und ihre Stimme wurde weit über das Wasser getragen, obwohl sie nicht laut sprach.
„Wo sind wir?“
„Nahe der Erlösung.“
Erst jetzt wurde Payton sich bewusst, dass er nur noch sein Plaid um die Hüften und über die bloße Brust trug. Sein Hemd, seine Stiefel, sein Gürtel mit seinen Waffen und seine Brosche waren verschwunden.
„Was hat das alles zu bedeuten? Was geschieht jetzt?“
Beathas bedeutete ihm, sich umzudrehen, und er tat es. Das Meer hinter ihm stand in Flammen – und sie fuhren direkt darauf zu. Etliche weitere Boote waren auf dem Wasser, alle an Bord der Schiffe trugen Weiß. Ohne sein Staunen weiter zu beachten, erklärte Beathas:
„Der Blick in deine Seele hat mir gezeigt, dass du des Verbrechens schuldig bist, über welches meine Schwester Vanora gerichtet hat.“
Das konnte Payton nicht leugnen. Zu deutlich standen ihm die Bilder des Kampfes noch vor Augen.
„Aber du bereust. Fehler im Schmerz zu begehen, ist etwas, das Menschen, die zur Liebe fähig sind, immer wieder machen. Dein Herz ist nicht schwarz – und deine Seele ebenfalls nicht.“
Sie lächelte vergebend. In ihren Augen spiegelten sich die näher kommenden Flammen. In einem fast vollständigen Kreis trieben brennende Flöße wie Perlen an einer Schnur, und – als sie mit ihrem Boot in den Kreis glitten – schloss sich dieser hinter ihnen. Sie waren umgeben von einem Ring aus Feuer, der die Nacht zum Tag machte und selbst die Wellen in Brand zu setzen schien. Alles erstrahlte im gleißenden Licht der Flammen.
Auch Beathas, die bisher rein, beinahe silbern gewirkt hatte, schien inmitten der Feuer rotgolden zu brennen. Ihre Augen hatten sich in glühendes Metall verwandelt.
„Der Rat der Weisen hat getagt. Unsere Schwester Vanora hat eigenmächtig gehandelt, als sie den Fluch über euch alle sprach. Es ist nicht unser Wunsch, Schicksalsfäden zu führen oder über Leben und Tod zu entscheiden. Aber unsere Schwester ist gestorben, ehe sie ihren Fehler erkennen konnte, und es ist nicht an uns, erneut in euer aller Schicksal einzugreifen. Aber ich konnte den Rat überzeugen, dein Herz seine eigene Wahl treffen zu lassen.“
„Ihr wollt mich erlösen?“ Payton konnte den Worten der weißhaarigen Frau nicht glauben. So
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