Das Vermächtnis der Eszter
Szene zu gefühlvoll vor, und ich war froh, als sie sich mit leisem Sträuben aus meinen Armen wand. Sie ging zur Kommode, zündete eine Zigarette an, hustete ein bißchen und begann, noch verlegen von der etwas künstlichen Szene, die aufgestellten Gegenstände und gerahmten Photographien zu betrachten. Für mich ist diese polierte Kommodenplatte ein Heiligtum wie für die Chinesen der Hausaltar, vor dem sie sich zu Ehren der Ahnen verneigen. In einer langen Reihe blicken mich alle an, die ich geliebt habe, alle, die in meinem Leben wichtig waren. Ich trat neben sie und beobachtete, wie sie mit den Augen alles abtastete.
»Das ist Mutter«, sagte sie leise, heiter. »Wie schön sie ist. Da ist sie wahrscheinlich jünger, als ich jetzt bin.«
Von dem Bild blickte die achtzehnjährige Vilma auf uns, ein wenig pummelig, nach der damaligen Mode gekleidet, in weißem Spitzenkleid und hohen schwarzen Schnürstiefeln, mit aufgelöstem, zu Zapfenlocken gedrehtem und in die Stirn fallendem Haar, in den Händen Blumen und einen Fächer. Es war eins von den feierlichen Bildern, eckig und unnatürlich. Nur die dunklen, fragenden Augen verrieten etwas von der zornigen, leidenschaftlichen Vilma der späteren Jahre.
»Erinnerst du dich an sie?« fragte ich und merkte, daß meine Stimme unsicher klang.
»Nur undeutlich«, sagte sie. »Einmal tritt jemand ins dunkle Zimmer, beugt sich über mich, und es kommt ein warmer, vertrauter Duft von ihm. Das ist alles, was ich noch weiß. Ich war erst drei, als sie starb.«
»Dreieinhalb«, sagte ich verwirrt.
»Ja. Aber richtig erinnere ich mich nur an dich. Immer zupfst du an mir herum, ordnest mir die Kleider oder das Haar, immer gehst du durch das Zimmer, ewig hast du zu tun. Dann verschwindest auch du. Warum bist du weggegangen, Eszter?«
»Still«, sagte ich. »Sei still, Éva, du verstehst das noch nicht.«
»Noch nicht?« fragte sie und begann zu lachen, mit ihrer singenden, allzu gedehnten, gekünstelten Stimme, die jedes ihrer Worte überaus wichtig und selbstbewußt klingen ließ. »Du spielst immer noch das Mütterchen, Eszter, Liebes«, sagte sie gutgelaunt, hochmütig und mitleidig. Und jetzt war sie es, die – ganz nach Erwachsenenart – mir den Arm um die Schultern legte, mich zum Sofa führte und mich hinsetzte.
Wir blickten uns an wie zwei Frauen, die voneinander alles wissen, oder immerhin ahnen. Plötzlich durchfuhr mich heiße Aufregung. Vilmas Tochter! dachte ich. Die Tochter von Vilma und Lajos. Ich spürte, wie ich rot wurde: Die Eifersucht brach aus solcher Tiefe und mit solcher Wucht hervor, daß es mich erschreckte; eine eifersüchtige Stimme begann in mir zu schreien. Ich wollte sie gar nicht zum Schweigen bringen. Das könnte deine Tochter sein! schrie die Stimme. Deine Tochter, der Inhalt deines Lebens. Warum war sie zurückgekommen? Ich senkte den Kopf und vergrub das Gesicht aufgeregt in meinen Händen. Der Augenblick war stärker als die Scham, die ich wegen dieser Geste empfand. Ich wußte, daß ich jetzt mein Geheimnis preisgab, daß mich jemand beobachtete und meine Schande und meinen inneren Kampf ungerührt zur Kenntnis nahm. Und die junge Frau, die meine Tochter hätte sein können, erlöste und rettete mich nicht aus dieser kläglichen Situation. Nach einer ewig langen Zeit hörte ich wieder ihre merkwürdige, selbstbewußte und gleichgültige Stimme.
»Du hättest nicht weggehen sollen, Eszter. Es war sicher nicht leicht mit Vater, aber du hast doch bestimmt gewußt, daß nur du ihm helfen konntest. Und dann waren wir auch noch da, Gábor und ich. Uns hast du auch hübsch dem Schicksal überlassen. Wie zwei Kinder, die man vor dem Tor aussetzt. Warum hast du das getan?«
Und da ich schwieg, sagte sie ruhig: »Aus Rache hast du’s getan. Warum schaust du mich so an? Du warst schlecht und hast aus Rache gehandelt. Du warst die einzige Frau, die Macht über Vater hatte. Du warst die einzige Frau, die er geliebt hat. Nein, Eszter, das weiß auch ich, und zwar mindestens so gut wie du und Vater. Was ist zwischen euch vorgefallen? Ich habe oft darüber nachgedacht. Ich hatte zum Nachdenken eine ganze Kindheit lang Zeit genug. Und diese Kindheit war nicht besonders heiter, das kannst du mir glauben. Kennst du die Einzelheiten? Ich erzähle sie dir gern. Deswegen bin ich gekommen – um sie dir zu erzählen. Und dich um Hilfe zu bitten. Ich glaube, du bist uns das schuldig.«
»Mit allem«, sagte ich, »ich will mit allem helfen, was ich
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