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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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nicht eintreffe, wisse er, daß du die Kraft nicht hast, es zu tun … Und dann könne auch er nichts anderes mehr tun als bleiben und Mutter heiraten. Über all das konnte er nicht mit dir sprechen. Er hatte Angst, du würdest ihm nicht glauben, weil er schon so viel gelogen hatte. Ich kann nicht wissen, was zwischen euch vorgefallen war … Ich habe auch kein Recht, danach zu fragen. Aber du hast den Brief nicht beantwortet, und dann ist alles auf eine fürchterliche Art schiefgelaufen, verzeih, Eszter … Jetzt, da es vorbei ist, glaube ich, daß auch du daran schuld bist.«
    »Wann hat dein Vater diese Briefe geschrieben?«
    »In der Woche vor seiner Hochzeit.«
    »Wohin hat er sie adressiert?«
    »Wohin? Hierher, an dich, nach Hause. Du hast ja hier gelebt, Mutter auch.«
    »Du hast die Briefe in einer Rosenholzschachtel gefunden?«
    »Ja. In einer Schachtel. In Mutters Wäscheschrank.«
    »Hatte jemand den Schlüssel zu dem Schrank?«
    »Nur du. Und Vater.«
    Was konnte ich sagen? Ich ließ ihren Arm los, stand auf, trat vor die Kommode, hob Vilmas Bild hoch und betrachtete es. Es war lange her, daß ich das Bild in den Händen gehalten hatte. Jetzt starrte ich auf die vertrauten und doch beängstigend fremden Augen, auf die Stirn, und plötzlich begriff ich.

14

    Meine Schwester Vilma hat mich gehaßt. Es stimmte, was Éva sagte: Zwischen uns hat eine Art Urhaß gelodert, eine namenlose, dunkle Feindschaft, deren Grund sich mit den Jahren verlor. Wir hätten nie genau formulieren können, warum wir einander haßten. Denn auch ich haßte sie und suchte keine Gründe und Vorwände dafür. Keine von uns hätte sagen können, es liege an der und der beleidigenden Handlung, die und die bösen Worte seien gefallen, und deswegen seien wir so gegeneinander aufgebracht. Immer war Vilma die stärkere, auch in ihrem Haß. Hätte man sie gefragt, warum sie mich so unerbittlich hasse, hätte sie siedendheiße Anklagen und Begründungen vorgebracht, aber das alles hätte unseren Haß nicht erklärt. Wir hatten vergessen, woher er kam. Es blieb nur die Feindseligkeit, ein brodelndes, dichtes Gefühl, das mit seiner schlammigen Flut die ganze seelische Landschaft überschwemmte, und als Vilma starb, blieben anstelle der verwandtschaftlichen Gefühle verödete Landstriche zurück.
    Ich hielt mir das Bild nahe an meine kurzsichtigen Augen. Wie stark doch die Toten sind! dachte ich hilflos. In diesem Augenblick lebte Vilma wieder, in jener geheimnisvollen Existenzform, in der nur die Toten zeitweise unser Leben zu bestimmen vermögen, die Toten, die wir tief unter der Erde wähnen, den unerbittlichen Gesetzen des Verfalls ausgeliefert. Doch dann tauchen sie eines Tages auf und nehmen das Heft in die Hand. Vielleicht ist dieser heutige Tag Vilmas Tag! dachte ich. Und ich erinnerte mich an den Nachmittag, als sie im Sterben lag, als sie ihre Umgebung nur noch für Augenblicke erkannte, als ich an ihrem Bett weinte und auf ein Wort von ihr wartete, ein Wort des Abschieds, der Vergebung, der Versöhnung. Aber ich spürte, daß ich selbst ihr nicht einmal angesichts des Todes verziehen hatte und daß sie auf der Schwelle des Todes mir ebensowenig verzeihen konnte. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Da sagte sie: »Du wirst noch an mich denken!« Sie redet im Wahn. Sie hat mir vergeben! dachte ich hoffnungsvoll. Aber ich spürte wohl, daß sie mir drohte. Dann ist sie gestorben. Nach der Beerdigung blieb ich noch monatelang in der Wohnung. Man konnte die Kinder nicht allein lassen. Lajos war ins Ausland gereist und blieb während einiger Monate weg. Ich lebte in der leeren Wohnung und wartete auf etwas.
    Doch Vilmas Schrank, jenen Schrank, in dem Éva später die Briefe fand, machte ich nie auf. Wenn man mich fragte, warum, würde ich vielleicht edel und wohlklingend antworten, ich hätte kein Recht, in den Geheimnissen der Toten zu wühlen. In Tat und Wahrheit war ich feige, ich hatte Angst vor dem Inhalt des Schranks, Angst vor der Erinnerung an Vilma. Denn als sie starb und den dauernden leidenschaftlichen Dialog, die Auseinandersetzung zwischen uns einseitig beendete, da war es, als hätte sie alle gemeinsame Erinnerung, jedes gemeinsam und aufgeregt verfolgte Ziel mit einem Bann belegt. Lajos verreiste nach der Beerdigung, und ich lebte mit den Kindern in der Wohnung, in der mir nichts gehörte und in der doch alles ein wenig mir weggenommen war, wo die Gebrauchsgegenstände mit dem Siegel eines geheimnisvollen

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