Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
überrascht an.
»Das hat Edna zu Amy in der Tornadonacht gesagt«, fügte sie leise hinzu. »Sie muss es gewusst haben.«
Moma strich abwesend über den Rand ihrer Teetasse. »Was für eine sonderbare Erfahrung. Man könnte an seinem Verstand zweifeln. Es ist die Magie des Wortes – des Gedankens, die uns hier auf eine Weise deutlich wird, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Und was Aaron eben gesagt hat, finde ich gar nicht so abwegig.« Mit flatternden Fingern stellte sie die Tasse auf den Tisch zurück und legte die Hände in den Schoß. »Am Anfang war das Wort. Damit beginnt die Bibel. Alles beginnt mit Gedanken, gedachten Wörtern. Alles Gute und alles Böse. Selbst die einfachsten Dinge.« Sie deutete auf die Kanne. »Ich denke zum Beispiel: Jetzt könntest du eine gute Tasse Tee vertragen. Sofort entsteht das Bild einer dampfenden Tasse und meine Nase schnuppert schon den angenehm blumigen Aufguss. Das ist das Erste. Und obwohl das Ganze bisher nur in meinem Kopf stattfindet, lässt mir allein dieser Gedanke das Wasser im Munde zusammenlaufen. Dann gehe ich in die Küche, setzte Wasser auf, fülle das Teesieb, und so weiter und so weiter … Und schließlich – voilà – steht der fertige Tee da. Alles, was wir in unserem Leben tun, hat seinen Ursprung in Gedanken und Wünschen, seien es die eigenen oder die von anderen. Nennen wir es die Magie des Alltags. Von einem inneren Bild zu etwas sinnlich Wahrnehmbaren.«
»Ein schöner Vergleich«, pflichtete der Professor bei. »Alles, was Menschen geschaffen haben, entsprang zunächst Gedanken, vom Steinzeithammer bis zu den großen Errungenschaften unserer Spezies.«
»Ich glaube«, fuhr nun wieder Moma fort, »die alten Völker haben zwischen Wirklichkeit und Vorgestelltem nicht so sehr unterschieden wie wir heute. Man nennt das: magisches Denken. Die Dinge – ich meine alles –, die ganze Natur war für sie beseelt. Man war sich der Kraft der Imagination noch viel mehr bewusst. In der Steinzeit haben sie Tiere an die Höhlenwände gemalt, um die Herden heraufzubeschwören. Man war fest davon überzeugt, dass Gedanken und Bilder – denn was sonst sind Imaginationen? – Einfluss auf die Realität haben.«
Der alte Herr nickte. »Im Laufe der Menschheitsgeschichte verlor sich diese Gewissheit jedoch, und zwar in dem Maße, in dem man die Welt und ihre Naturgesetze zu beherrschen glaubte. In dieser Welt der Dinge war kein Platz mehr für magisches Denken. Nur noch wenige besonders empfängliche Menschen waren sich darüber bewusst, dass ihre Worte und Gedanken etwas evozieren können. Im Mittelalter ein gefährliches Unterfangen, das viele mit dem Leben bezahlt haben.«
»Ja, die Hexenverbrennungen sind ein dunkles Kapitel unserer Kulturgeschichte«, sagte Moma düster.
»Aber war das nicht Aberglaube?«, warf Josie zögernd ein.
»Was ist schon Aberglaube?«, gab der Professor ihre Frage zurück. »Jedenfalls ist uns eine Menge verloren gegangen. Die Faszination der Fantasie, das Gefühl, allein über unser Denken etwas herbeizuführen.«
»Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde …«, sagte Arthur. »Hamlet.«
»Oh ja, Shakespeare war sich darüber völlig im Klaren«, bestätigte Aaron O’Reardon hörbar erfreut, dass sein Neffe den großen Dichter zitierte. »Es gibt da eine Stelle aus dem Sommernachtstraum . Mal sehen, ob ich sie noch zusammenbekomme …« Er schloss für einen Moment die Augen, dann nickte er. »Ungefähr so: Und wie die Fantasie Gebilde von nie geseh’nen Dingen bringt hervor, so bildet sie des Dichters Feder, und gibt dem luft’gen Nichts Ort, Zeit und einen Namen.«
»Das trifft es genau«, murmelte Moma. »Und mir scheint, das erfahren wir eben hautnah.«
» Die unendliche Geschichte «, sagte Josie ganz in Gedanken. »Bastian, also der Junge, der alles erlebt, wird durch ein Buch nach Phantásien gezogen, und ganz allmählich bemerkt er, dass er diese andere Welt selbst erschafft.«
Moma blickte sie ernst an. »Ja, daran hab ich auch schon gedacht. Aber um ein Haar hätte der Junge vergessen, wer er ist, und nicht mehr aus der Geschichte herausgefunden. Nicht sehr beruhigend.«
In Josies Kopf drehte sich alles. Fantasie – Wirklichkeit. Was war was? Anderwelt – die Welt der Dinge. Rosalinde war für sie inzwischen ebenso real wie die gute Maude. Die vertrauten Grenzen ihrer Wahrnehmung schienen sich mehr und mehr aufzulösen. Zum Glück stand sie damit nicht allein. Jeder hier im
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