Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
den Vorderzähnen. Sein beißender Schweißgeruch, der sich mit den Restmolekülen eines billigen Rasierwassers zu einer fatalen Mischung verband, verkleisterte ihr die Nase. Sie kämpfte gegen das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Angewidert tauchte sie unter seinem Arm durch und steuerte auf ihr Zimmer zu. Ken folgte ihr. Er lehnte schwer und unbezwingbar wie eine Bulldogge am Türrahmen, während Amy mit bebenden Fingern ihre Reisetasche unter dem Bett hervorzerrte.
Ken kratzte sich am Doppelkinn. »Edna hat sich wohl nich gemeldet?«
Amy schüttelte den Kopf.
»Dumme Sache!« Ken nickte bedauernd. »Kannst bei uns bleiben. Ein Maul mehr is auch ne Hand mehr, sagt man bei uns. Sone Farm kriegt schon paar Leute satt. Und für son junges Ding isses Landleben allemal besser als die Stadt.«
Verbissen stopfte Amy ihre Sachen in die Tasche. Bullshit! Sie hatte heute sowieso packen wollen. Hatte sich richtig drauf gefreut. Europa – Irland, wo ihre Familie herkam, und dazu noch mit Josie zusammen! Und sie war so gespannt auf Moma. Vor allem aber musste sie Edna finden.
Und jetzt sollte sie mit Sack und Pack nach Prattville, auf eine Farm am Arsch der Welt. Sie schielte zu dem Fleischberg in den kurzen Hosen hinüber, der mit einem Taschenmesser in den Trauerrändern seiner Fingernägel pulte. Es musste einen Ausweg geben! Okay, an dem fetten Ken kam sie nicht vorbei. Die Feuerleiter konnte man nur von Ednas Zimmer aus erreichen. Jetzt half nur ein Wunder.
Eine plötzliche Eingebung lenkte Amy Blick zu ihrer Samttasche, die sie in der Hektik auf die Bettdecke geworfen hatte. Für einen Moment hielt sie inne. Dann sah sie hoch und machte eine Kopfbewegung Richtung Tür.
»Onkel Ken … Kann ich mich noch umziehen?«
Der Onkel grinste zufrieden. »Ja, zieh dich mal was Hübsches über, siehst ja aus wie’n Totenvogel in dem schwarzen Fummel.« Selbstgefällig über seinen schwachen Witz grunzend, schloss er die Tür hinter sich.
Eilig warf Amy die Mappe mit dem Familienstammbaum und den Fotos, die sie für Josies Großmutter schon bereitgelegt hatte, in ihr Gepäck. Dann fischte sie in äußerster Anspannung in ihrer Samttasche. Hatte der Vogelmann nicht gesagt, die Drachenfibel solle ihrem Schutz dienen? War auch ihre Fibel durch ihr Blut magisch geworden? Kaum hielt sie das Schmuckstück in der Hand, fühlte sie überrascht, wie es sich erhitzte. Das Purpurherz leuchtete auf und sprühte Funken, als würde glühendes Eisen geschmiedet. Eine purpurrote Aura umgab ihren Körper wie eine Art Heiligenschein. Obwohl sie, außer dem, was sie in Büchern gelesen hatte, nichts über Magie wusste, war ihr intuitiv klar: Jetzt hieß es, sich voll und ganz zu konzentrieren. – Hoffentlich gelang ihr das bei all der Aufregung. Sie schulterte die Reisetasche und stellte sich vor die Wand, die das Zimmer vom Hausgang trennte. Von einem Plakat blickten die Jungs ihrer Lieblingsboygroup auf sie herab und lächelten, als fänden sie ihr Vorhaben mehr als albern.
»Sorry!« Genervt fetzte Amy das Poster von der Tapete. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, sich zu sammeln. Dann berührte sie mit der Drachenfibel die Wand und schloss die Augen. Sie stellte sich vor, wie das Mauerwerk weich wurde und ihren Fuß umhüllte wie Grütze. Wie sie mit dem ganzen Körper in eine breiige Masse eintauchte und wie sie außerhalb der Wohnung wieder aus der Wand heraustrat.
Behutsam streckte sie das rechte Bein vor. War die Wand bereits weich geworden oder bildete sie sich das bloß ein? Sie gab etwas Druck. Nein, das klappte noch nicht! Heiße Wellen trieben ihr den Schweiß aus den Poren. Aber es musste klappen! Es musste einfach! Ihr Herz schlug wie ein Schnellfeuergewehr, ihre Stirnader pochte im selben rasenden Takt. Sie bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Immer mit der Ruhe, Amy!, befahl sie sich. Dann kam ihr eine Idee. Mit geballter Vorstellungskraft stellte sie sich alles nur erdenklich Weiche vor, Butter, Eiscreme, Badeschaum, und hob langsam den Fuß. Und dann geschah das Unfassbare. Ihre Schuhspitze bohrte sich in die Wand. Sie riss die Augen auf. Das Kristallherz glühte noch immer, dazu sprühte es jetzt wie ein rotes Tischfeuerwerk. Sie streckte die Hand aus. Die Mauer fühlte sich an wie Kuchenteig. Sie wagte einen Schritt …
»Amy, Süße, mach! Beeilung!« Kens Stimme erreichte sie, als sie eben den Kopf auf den Gang streckte.
Amy spürte, wie sich augenblicklich alles um sie herum zusammenzog. Noch
Weitere Kostenlose Bücher