Das Vermächtnis der Feuerelfen
können. Finearfin hätte es verhindern können, schoss es ihr durch den Kopf, weil sie das Bedürfnis hatte, einen Schuldigen für das, was ihr gerade widerfuhr, zu finden. Sie hat meine Mutter im Stich gelassen, sonst säße sie jetzt nicht hier. »Du hattest den Auftrag, meine Mutter zu beschützen. War es nicht so?«
»Ich war ihre persönliche Leibwache und als solche für ihre Sicherheit verantwortlich«, räumte Finearfin ein, ohne etwas zu beschönigen oder Ausflüchte zu suchen.
Caiwen reckte das Kinn vor und schaute Finearfin herausfordernd an. »Wenn dem wirklich so war, dann frage ich mich, wo warst du damals? Wo warst du, als meine Mutter dich mehr als jemals zuvor gebraucht hätte? Wo warst du, als man jene tötete, die versuchten, sie zu beschützen? Wo?«
»Es steht dir zu, mich das zu fragen«, erwiderte Finearfin ruhig. »So wie es dir zusteht, darauf eine ehrliche Antwort zu bekommen. Ich …« Sie wollte noch etwas hinzufügen, aber Caiwen war viel zu aufgewühlt, um zu schweigen. »Spar dir die Ausreden«, herrschte sie die Elfe an. »Ich weiß es. Ich habe es gesehen. Im Traum. Wieder und wieder. Ich sah den Überfall im Wald. Ich sah die Elfen sterben. Die Angreifer haben alle getötet, nur mich und meine Mutter nicht.« Sie atmete heftig. »Aber dich, dich habe ich nicht gesehen. Nur frage ich dich, warum nicht? Warum bist du hier, wenn doch alle anderen tot sind? Hast du dich feige verkrochen, als sie starben? Hast du es mit angesehen, ohne ihnen zu helfen? Oder warst du am Ende gar nicht dort, weil du etwas Besseres zu tun hattest, als meine Mutter zu beschützen?«
»Das sind schwere Vorwürfe, die du da erhebst, Caiwen.« Finearfin schaute sie tadelnd an. »Ich verstehe deinen Zorn und erkenne, dass die Wahrheit für dich nur schwer zu ertragen ist. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass du vorschnell ein Urteil fällen darfst, bevor du die ganze Geschichte kennst.«
Caiwen errötete. Sie schämte sich, weil sie instinktiv spürte, dass Finearfin recht hatte. Die Elfe schien zu ahnen, was in ihr vorging, denn sie sprach weiter, ohne auf einen möglichen Einwand zu warten. »Als der Überfall geschah, war ich nicht beim Lagerplatz. Aber ich habe mich nicht verkrochen. Ich war auf der Jagd. So wie an jedem Tag eine von uns zur Jagd aufbrach, war ich an jenem schicksalhaften Morgen einem Hirsch auf der Spur, um für Nahrung zu sorgen. Du musst wissen, dass der Überfall an einem heiligen Ort stattfand. An einem Ort, den die Hohepriesterin der Elfen nur dann aufsucht, wenn für sie die Zeit der Niederkunft gekommen ist. Im Schutze geweihter Eichen verbringt sie mit ihrem Neugeborenen den ersten Mond. Es ist der Ort, an dem die Tochter die erste Weihe empfängt. Der Ort, an dem sie ihr Leben für immer an die Wälder bindet und deren Kräfte in sich aufnimmt. Die Hohepriesterin reist nur mit wenigen
Getreuen dorthin, denn das, was dort geschieht, ist nicht für jedermanns Augen bestimmt. Aber auch die wenigen müssen essen, und da im Umkreis der geweihten Eichen nicht gejagt werden darf, sind wir gezwungen, einen weiten Weg zurückzulegen, um Wild zu erlegen.« Sie schaute Caiwen offen an. »Nun weißt du, wo ich war, als das Schreckliche geschah, und warum ich als Einzige der Getreuen den hinterhältigen Überfall überlebt habe. Ich würde es dir nicht einmal übel nehmen, wenn du mich dafür verdammst, denn genau das tue ich seit fünfzehn Wintern. Als ich zurückkehrte, fand ich das Lager verlassen vor. Wenig später stieß ich auf die gemeuchelten Körper meiner Freunde. Von deiner Mutter und dir fehlte jede Spur.«
Sie verstummte kurz und fuhr dann fort: »Ich habe sofort die Verfolgung aufgenommen, aber die Fährte war geschickt falsch gelegt und führte ins Nichts. Die Entführer hatten die Tat sorgfältig geplant und wussten vermutlich von Melrem gut über uns Elfen Bescheid. Ich konnte euch nicht finden.«
»Und dann kam der Krieg«, sagte Caiwen wie zu sich selbst.
»Richtig.« Finearfin nickte. »Die fünfzehn Winter, die seitdem vergangen sind, waren keine leichte Zeit. Der Elfenkönig und der Herrscher Tamoyens beschuldigten sich gegenseitig, sich schaden zu wollen. Worte fielen, die niemals hätten gesagt werden dürfen, Dinge wurden getan, die nie hätten geschehen dürfen. Unser König war in großer Sorge und verlangte, dass die Hohepriesterin sofort freigelassen würde. Der König Tamoyens aber wollte darauf nicht eingehen.«
»Warum wollte Nimeye die
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