Das Vermächtnis der Feuerelfen
bei ihr, packte sie am Arm und zerrte sie mit sich. Während sie lediglich ein paar Fußabdrücke im Schnee hinterließ, erzeugten Caiwens Schritte eine Spur von Pfützen, die sich grau auf dem hellen Schnee abzeichneten. »Verdammt noch mal, ich habe das nicht gesagt, um dich zu ärgern.« Am Ufer angekommen, ließ Finearfin Caiwen los und funkelte sie zornig an. »Nur einen Augenblick länger, und du wärst eingebrochen.«
»Das … das verstehe ich nicht.« Schuldbewusst und verwirrt zugleich schaute Caiwen auf ihre Fußstapfen, in denen der geschmolzene Schnee bereits wieder zu gefrieren begann.
»Nicht?« Finearfin deutete mit einem Kopfnicken auf den Boden. »Auch jetzt nicht?«
Caiwen trat erschrocken einen Schritt zurück. »Mar-Undrums Zorn, was ist das?« Fassungslos starrte sie auf den feuchten schneefreien Fleck, auf dem sie gerade noch gestanden hatte. Als sie den Blick zu ihren Füßen wandern ließ, konnte sie förmlich zusehen, wie der Schnee sich auch hier auflöste und sich immer weiter von ihr zurückzog, als wohne ihr eine Wärme inne, gegen
die er sich trotz der frostigen Luft nicht zu behaupten vermochte. »Was … was ist das?«, stammelte sie noch einmal.
»Das ist deine Gabe. Die Gabe, den Schnee zu bannen.« Finearfin lächelte. »Du trägst sie seit deiner Geburt in dir. Sie gehört zu dir wie deine Stimme und dein helles Haar. Aber sie ist nur eine von vielen, die dir gegeben sind.« Sie bückte sich und pflückte eine kleine gelbe Blume, die zusammen mit dem ersten, zarten Grün den Kopf aus dem schneefreien Boden gestreckt hatte. »Sieh nur, du trägst den Frühling in dir, Caiwen.«
»Nein.« Caiwen hob abwehrend die Hände. »Das ist Magie«, sagte sie mit bebender Stimme. »Das ist wider die Natur. So etwas darf es nicht geben. Es bringt das natürliche Gleichgewicht durcheinander. Ich … ich will das nicht.«
»Es ist falsch, so wie es ist«, stimmte Finearfin ihr zu. »Und doch ist es richtig. Alles, was du tun musst, ist zu lernen, über die Gabe zu gebieten. Noch tobt sie ungezügelt und frei in dir, aber wenn du sie dir zu Diensten machst, wirst du damit viel Gutes bewirken können.« Sie trat auf Caiwen zu und reichte ihr die Blume. »Nach der Tradition der Elfen wäre es die Aufgabe deiner Mutter gewesen, dich von Geburt an im Umgang mit deinen Kräften zu unterweisen. Das Schicksal wollte es anders, aber es ist nicht zu spät. Viele der Priesterinnen im Zweistromland haben schon deiner Mutter gedient. Sie werden dich vieles lehren können. Anderes wirst du selbst herausfinden. Hab keine Furcht. Es wird alles gut.«
»Gut?« Caiwen schnaubte ungehalten. »Gut für wen? Für euch vielleicht, weil ihr dann wieder den ganzen Wald bewohnen könnt. Aber was ist mit mir? Was ist mit meinen Wünschen und Sehnsüchten? Was ist gut für mich? Danach fragt niemand.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Du, Melrem, Durin und die anderen … Ihr denkt doch alle nur an euch! Was aus mir wird, ist euch völlig gleichgültig.«
»Du tust ihr unrecht.« Heylon trat neben sie und legte ihr den
Arm fest um die Schultern. »Ich weiß nicht, welche Ziele Melrem verfolgt, aber ich bin sicher, dass Finearfin dich nicht ausnutzen will. Ist es nicht verständlich, dass sie ihrem Volk in der Not helfen will? Und es ehrt sie, dass sie bereit ist, dafür so große Gefahren in Kauf zu nehmen. Überleg mal, so weit ist sie damit gar nicht von dir entfernt.« Er machte eine Pause, schaute Caiwen voller Zuneigung an und sagte dann: »Ich kann verstehen, dass dich das alles überfordert, aber ich weiß auch, du bist stark genug, es zu schaffen. Die Gabe ist ein Teil von dir und wird es immer sein. Du kannst sie nicht einfach ablegen wie ein ungeliebtes Kleidungsstück, aber du kannst lernen, sie zu beherrschen. Umso dankbarer solltest du sein, dass es einen Ort gibt, an dem du Hilfe erwarten kannst. Du bist verwirrt und fürchtest dich vor all dem Neuen, aber du bist nicht allein.«
Lange sagte Caiwen nichts, während seine Worte noch in ihr nachklangen. »Dann gehst du nicht fort?«, fragte sie schließlich zaghaft. »Du gehst nicht nach Arvid?«
»Ich bleibe bei dir«, sagte Heylon bestimmt. »Dein Weg ist auch mein Weg. Ich begleite dich, wohin das Schicksal dich auch immer führen mag.« Er warf Finearfin einen raschen Blick zu und fügte hinzu: »Wenn es mir gestattet ist.«
DAS HERZ DER WÄLDER
S ie blieben am Strand und folgten damit Finearfins Rat, die Reise erst bei Sonnenaufgang
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