Das Vermächtnis der Feuerelfen
kälter war es geworden.
Während Finearfin und Heylon die Vorräte, Decken und Waffen zusammenpackten, stand Caiwen an der Reling, ließ den frostigen Atem in kleinen Wolken vor sich aufsteigen und schaute landeinwärts. Sie beobachtete die Küstenlinie nun schon eine ganze Weile und konnte sich an den bizarren Formen der Bäume und Sträucher gar nicht sattsehen, deren Äste von einer dicken Schneeschicht bedeckt wurden und im Sonnenlicht funkelten.
Bäume und Schnee.
Beides kannte sie nur aus den Überlieferungen der Alten, die an den abendlichen Herdfeuern auf dem Riff weitergegeben wurden. Und auch wenn die Bäume in den Geschichten meist grün und voller Blätter waren, übten auch die kahlen Äste einen wundersamen Reiz auf sie aus, der sie die Schönheit eines sommerlichen Baums erahnen ließ.
»Es ist Zeit.« Finearfin berührte sie sanft an Arm. »Wir müssen von Bord gehen.«
Caiwen nickte und schulterte wortlos das Bündel, das die Elfe ihr reichte. An eine Umkehr dachte sie nicht mehr. Nun, da sie einen ersten Blick auf die Heimat ihrer Mutter geworfen hatte, war sie begierig, mehr zu erfahren. Was immer sie an Land erwarten mochte, es war ein Abenteuer, für das sie sich bereit fühlte.
Finearfin ging als Erste von Bord. Obwohl sie das schwere Bündel mit den Vorräten bei sich trug, zeigte das kaum fingerdicke Eis keine Risse, als sie darüber hinwegglitt. Heylon wollte ihr folgen, aber Finearfin schüttelte den Kopf. »Wartet an Bord, bis alles bereit ist. Ich möchte kein Risiko eingehen.«
Caiwen fragte sich, was sie damit meinte. Sie hatte noch nie im Leben eine so große Fläche gefrorenen Wassers gesehen. Dort, wo das Schiff lag, war es glasklar, sodass sie auf den Grund sehen konnte. Weiter hinten, kurz vor dem Ufer, war es von Schnee bedeckt. Fasziniert blickte Caiwen auf die spiegelglatte Fläche.
Wenn es auf dem Riff nachts sehr kalt gewesen war, hatte sich auf Pfützen oder in Wasserkrügen eine dünne Eisschicht gebildet. Der Ozean rings um das Riff fror niemals zu.
Sie hätte es nie für möglich gehalten, dass Eis so dick werden konnte. Und wenn es Finearfin und ihr Gepäck trug, würde es gewiss auch sie und Heylon tragen. Warum also beharrte die Elfe darauf, dass sie an Bord blieben?
Sie fragte Finearfin danach, aber erst nachdem diese ihre Last an Land geschafft und eine Planke über das Eis gelegt hatte, erhielt sie eine Antwort. »Ihr müsst über das Brett gehen«, wies Finearfin sie und Heylon an. »Das Eis würde euch hier draußen noch nicht tragen.«
»Aber dich hat es doch auch getragen«, erwiderte Caiwen, während Heylon bereits den Fuß auf das Brett setzte und sich auf den Weg zum Strand machte.
»Das ist etwas anderes. Ich bin eine Elfe.«
»Ich auch.«
»Ja. Dennoch ist es sicherer, wenn auch du über die Planke gehst.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wenn du an Land bist, wirst du es verstehen.« Finearfin lächelte. »Vertrau mir. Und jetzt komm.«
Caiwen schwang sich über die Reling und betrat vorsichtig die Planke. Anders als bei Heylon, unter dessen Gewicht das Eis bedrohlich geknirscht hatte, blieb bei ihr alles still. »Siehst du«, sagte sie zu Finearfin. »Ich könnte auch über das Eis gehen wie du.«
»Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht versuchen«, mahnte Finearfin. »Ich habe keine Lust, dich noch einmal aus dem Wasser zu fischen, und wir haben auch keine trockenen Kleider mehr.«
»Aber …«
»Kein Aber!« Finearfins strenger Tonfall erinnerte Caiwen an Armide. Die Heilerin hatte immer dann so gesprochen, wenn eine unmittelbare Gefahr drohte und keine Zeit für lange Erklärungen
blieb. »Beeil dich, und sieh zu, dass du an Land kommst. Wenn du die Planke verlassen hast, lauf, so schnell du kannst.«
»Aber das Eis ist da vorn doch dicker als …«
»Lauf hinüber, habe ich gesagt.«
»Ist ja schon gut.« Caiwen schob trotzig die Unterlippe vor. Sie hielt Finearfins Sorge für übertrieben und unbegründet. Vom oberen Ende der Planke bis zum Land waren es nur ein paar Schritte, und das Eis dort hatte sogar Heylon getragen, der viel schwerer war als sie. Was sollte schon groß passieren?
Als sie vom Holz auf das Eis trat, lief sie nicht. Betont langsam setzte sie den Fuß auf die glatte Fläche, die unter einer Handbreit Schnee verborgen lag.
»Finearfin!« Verblüfft starrte sie auf den Schnee, der sich rings um ihre Füße wie von Zauberhand aufzulösen schien.
»Du sollst laufen!« Mit wenigen Schritten war Finearfin
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