Das Vermächtnis der Feuerelfen
vermuten und fuhr mit leicht gesenkter Stimme fort: »Vieles ist möglich, doch ist es müßig, darüber zu rätseln. Gewiss wird Euer Enkel Licht ins Dunkel bringen.«
»Nach Norden, sagtet Ihr?« Maeve verfolgte ihre eigenen Gedanken. »Da gibt es weit und breit keinen Hafen … allerdings verkürzt die Reise den Weg ins Zweistromland erheblich.«
»Wie kommt Ihr darauf, dass sie ins Zweistromland reisen will?« Eine Spur von Verunsicherung schwang in der Stimme des Schwarzen mit.
»Nun, in ihren Adern fließt elfisches Blut«, erklärte Maeve knapp. »Mag sein, dass sie verwirrt ist und sich dennoch an die Heimat ihrer Vorfahren erinnert.«
»Mag sein.« Der Schwarze nickte, gab aber durch nichts zu erkennen, was er wirklich dachte.
»Wo sind sie an Land gegangen?«, wollte Maeve wissen.
»Tut mir leid, aber auch dazu kann ich nichts sagen.« Der Schwarze hob in einer bedauernden Geste die Arme. »Ich habe nur von einer Bucht gehört, die noch zur Hälfte mit Eis bedeckt ist.«
»Wäre ja auch zu einfach gewesen.« Der grimmige Ausdruck auf Maeves Gesicht vertiefte sich. »Solche Buchten gibt es nördlich von Arvid zuhauf.« Sie seufzte. »Also schön, wenn mein Enkel nicht fähig ist, meinen Auftrag auszuführen, und Ihr, der angeblich so Allwissende, mir nicht helfen könnt, werde ich die Sache eben selbst in die Hand nehmen.« Sie klatschte in die Hände und rief nach ihrer Zofe. Sogleich wurde die Tür geöffnet und eine junge Frau mit dunklen, kunstvoll aufgesteckten Haaren schaute herein. »Herrin?«
»Bring Borax zu mir.«
»Sofort, Herrin.« Die Zofe verneigte sich und huschte davon.
Angespannte Stille erfüllte den Raum, während Maeve und der Schwarze warteten. Dann endlich wurde die Tür geöffnet und die Zofe kehrte zurück. In den Händen hielt sie einen Käfig, in dem ein außergewöhnlich großer Rabe mit blauschwarzem Gefieder hockte.
»Ein Rußrabe.« Der Schwarze zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe.
Maeve nahm den Käfig in Empfang, stellte ihn neben sich auf das Bett und begann, den Raben durch die Stäbe hindurch mit
dem Finger zu streicheln. »Mein Vater machte ihn mir vor mehr als zwanzig Wintern zum Geschenk.« Ein dünnes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie hinzufügte: »Er ist mir bedingungslos ergeben und hat mir schon so manchen wertvollen Dienst erwiesen. Als Späher, als Bote und auch als Beschützer. Ich bin sicher, er wird meine Tochter finden.«
ZWISCHEN STUMMEN RIESEN
D ämmerung senkte sich über den Wald und vertiefte die Schatten. In der frostigen Luft tauchten die Sterne zunächst vereinzelt, dann zu Hunderten hinter den kahlen Ästen der Bäume auf, bis der Himmel über und über mit ihnen bedeckt war. Die Geräusche des Tages waren verstummt, die Jäger der Nacht noch nicht erwacht. Das feuchte Holz auf dem Feuer knisterte und knackte in der Stille.
Die drei auf dem Weg ins Zweistromland hatten ihr Mahl beendet. Während Caiwen und Heylon sich wie schon in der Nacht zuvor in ihre Decken rollten und nahe dem Feuer schlafen legten, nahm Finearfin ihren Bogen zur Hand, ging um das Feuer herum und lehnte sich mit dem Rücken gegen einen nahen Baum, um die erste Wache zu übernehmen. Sie rechnete nicht wirklich damit, so weit abseits jeder menschlichen Siedlung auf ein Anderweltwesen zu stoßen, aber man konnte nie wissen …
Außerdem war Melrem nicht dumm. Gewiss hatte er schon Männer an Land geschickt, die ihnen folgten. Und auch wenn diese vermutlich ebenso wie sie in der Dunkelheit eine Rast einlegten, konnte sie sich dessen nicht sicher sein. So hielt sie die Augen offen, spähte in die Schwärze des Waldes und versuchte, nicht auf die leise Stimme des Schlafes zu hören, die ihr zuflüsterte, dass sie die Augen ruhig für einen Moment schließen könne.
Die Mitte der Nacht war noch nicht angebrochen, als sie aus den Augenwinkeln einen vorbeihuschenden Schatten jenseits des Feuers bemerkte. Augenblicklich war sie hellwach. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, und das Gefühl, dass sich ein Geschöpf der Anderwelt ganz in der Nähe befand, wurde übermächtig. »Na also, da bist du ja.« Das blasse Gesicht der Elfe nahm einen grimmigen Ausdruck an, als sie die Worte kaum hörbar zu sich selbst sprach. Sie hatte insgeheim schon damit gerechnet, dass das Wechselwesen irgendwann wieder auftauchen würde. Beim ersten Mal, als ihr die Ratte auf dem Schiff begegnete, war sie unvorbereitet gewesen. Beim zweiten Mal, als es sie als Adler verfolgte,
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