Das Vermächtnis der Feuerelfen
Männer vollzählig am Feuer schliefen. Die grobschlächtigen Krieger fest eingerollt in ihre Decken zu sehen, hätte sie beruhigen müssen, aber der Schrecken haftete ihrem Denken an, als wäre er ein lebendiges Ding, und ließ sich nicht so leicht abschütteln. Um sich abzulenken, ließ sie den Blick über die Lichtung schweifen. Es war eine frostklare Nacht. Am Himmel strahlten die Sterne und irgendwo hinter den Bäumen war schwach der silberne Schein des Mondes zu sehen. Nirgends konnte sie etwas Ungewöhnliches entdecken, und doch spürte sie, dass sich etwas verändert hatte.
War es die Stille, die tiefer wirkte als in den Nächten zuvor? Die Dunkelheit, die zwischen den Bäumen noch finsterer anmutete? Oder waren es die Sterne, die eine Spur heller zu leuchten schienen? Einen Augenblick lang beschlich Caiwen die Sorge, dass sich erneut ein Rudel Nachtmahre in der Nähe befinden könnte, aber noch während sie den Gedanken erwog, erkannte sie, dass sie nicht das Gefühl von Gefahr hatte. Es war etwas anderes,
unbekannt, geheimnisvoll und - auf wundersame Weise voller Wärme.
Caiwen hielt den Atem an. Sie spürte die Nähe einer fremden Wesenheit so deutlich, dass sie glaubte, sie mit den Händen greifen zu können. Ihr Blick irrte suchend umher und blieb an den Wachen hängen, die - Caiwen traute ihren Augen nicht - ebenfalls eingeschlafen waren. Was ging hier vor?
»Aniye-Nenetihil.« Eine wohlklingende Stimme ließ sie zusammenzucken. Sie wandte sich um und sah die durchscheinende Gestalt einer Frau aus der Dunkelheit hervortreten. Sie war schlank und hochgewachsen. Die hellblonden Haare waren zu kunstvollen Zöpfen geflochten und umrahmten ein Gesicht, das ihr seltsam bekannt vorkam. Nebel umwallte sie wie eine magische Aura, als sie langsam auf Caiwen zuschwebte und ihr lächelnd die Hände entgegenstreckte. »Aniye-Nenetihil, Kind.« Ihre Stimme, kaum mehr als ein sanftes Raunen in der Stille, bebte, als sie fragte: »Erkennst du mich?«
Caiwen war sprachlos. Sie wusste sofort, wer dort vor ihr stand, und konnte es doch nicht glauben. »M… Mutter?« Tränen füllten ihre Augen, als sie das Wort aussprach. Ihre Stimme klang rau, trotzdem und weil es sich so unglaublich gut anfühlte, wiederholte sie es gleich noch einmal: »Mutter?«
»Meine Tochter.« Niemals zuvor hatte etwas Caiwen so sehr berührt wie diese beiden Worte. Eine Welle von Liebe durchflutete sie, und der Gedanke, wie es hätte sein können, wenn das Schicksal es nicht anders bestimmt hätte, ließ ihr die Kehle eng werden. »Mutter.« Sie schluchzte auf und barg das Gesicht in den Händen.
»Nicht weinen.« Wieder streifte ein Luftzug sanft ihre Wange, und endlich wusste sie, was sie geweckt hatte. »Nur wenigen ist vergönnt, was dir zuteil wird, meine Tochter. Es ist ein Grund zur Freude, nicht zur Traurigkeit.«
»Aber ich … ich.« Caiwen fehlten die Worte. Plötzlich schämte
sie sich für ihre Schwäche. Mit einer entschlossenen Handbewegung wischte sie die Tränen fort, atmete tief durch und sagte: »Ich weine, weil ich so glücklich bin, dich zu sehen.«
»Das bin ich auch.« Elethiriel lächelte. Sie war jetzt ganz nah.
»Bist du gekommen, um mir zu helfen?« Caiwen hob die Hände, damit ihre Mutter die Fesseln sehen konnte.
»Es tut mir weh, dich so zu sehen, aber das darf ich nicht. Was geschieht, muss geschehen. Ich kann den Lauf der Dinge nicht verändern. Ich will dir helfen, das ist wahr, aber es sind nicht die Fesseln, die zu lösen ich gekommen bin.«
»Wie kannst du mir dann helfen?« Es gelang Caiwen nicht, ihre Enttäuschung zu verbergen. Wie selbstverständlich war sie davon ausgegangen, dass ihre Mutter sie befreien würde. Aber der Unmut schmolz dahin, als sie ins Gesicht ihrer Mutter blickte. Die Gefühle, die sie darin las - Zärtlichkeit, Schmerz, Sehnsucht -, überwältigten sie und ließen keinen Raum für Zorn. Trotzdem fügte sie hinzu: »Weißt du denn nicht, dass die Krieger mich zu Maeve bringen, vor der du mich einst gewarnt hast?« Die Krieger! Ganz unvermittelt musste Caiwen an die schlafenden Männer denken. Wenn sie erwachten und ihre Mutter sahen?
»Mach dir keine Sorgen, sie werden schlafen, solange ich bei dir bin«, hörte sie ihre Mutter sagen, als hätte diese ihre Gedanken gelesen. »Heute Nacht wird uns niemand stören.«
»Dann … dann bist du kein Traum?«, fragte Caiwen verunsichert.
»Ich bin so wirklich wie die Sterne am Himmel.« Ihre Mutter lächelte, aber es war ein
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