Das Vermächtnis der Feuerelfen
war niemand zu sehen.
Verhaltenes Raunen erfüllte den Saal, das immer dann verstummte, wenn das unheimliche Donnern und Grollen zu hören war.
»Sie haben Angst«, stellte Durin fest. Wie Heylon hatte auch er die Kapuze seines Umhangs tief ins Gesicht gezogen, um unerkannt zu bleiben. Finearfin hatte befürchtet, dass die beiden damit auffallen würden, aber schnell festgestellt, dass eine ganze Reihe von Elfen ihr Gesicht verhüllten, um die durch Geschwüre und offene Wunden teilweise grausam entstellten Züge vor den anderen zu verbergen.
Der Anblick der Gezeichneten hatte sie erschüttert. Obwohl es
ihre Feinde waren, empfand sie tiefes Mitgefühl für ihre Brüder und Schwestern, die offensichtlich an einer Krankheit litten, die von den giftigen Dämpfen in den Höhlen oder dem Mangel an Sonnenlicht herrühren mochte.
»Hast du keine Angst?« Heylon schaute Durin von der Seite her an. »Das Rumoren ist mir unheimlich. Hätte ich die Wahl, ich wäre jetzt lieber irgendwo da draußen.«
»Wenn der Vulkan ausbricht, bist du da draußen auch nicht sicherer«, ertönte Durins Stimme aus den Tiefen der Kapuze. »Glaub mir, hier drinnen ist es schneller vorbei.«
»Du kannst einem wirklich Mut machen.« Heylon seufzte leise und fragte flüsternd: »Und? Wie wollt ihr Caiwen hier herausholen? So weit reichte unser Plan ja nicht.«
»Gar nicht.«
»Gar nicht?« Heylon schaute Durin fassungslos an. »Aber ihr habt doch gesagt, dass wir sie retten wollen.«
»Das war, bevor sie die Insel erreicht hat«, knurrte Durin leise.
»Wir sagten, dass wir das Schlimmste verhindern wollen«, erklärte Finearfin im Flüsterton. »Das bedeutet, wir müssen verhindern, dass sie den Bann löst.«
»Heißt das, ihr wollt sie töten?« Obwohl Heylons Gesicht im Schatten lag, konnte Finearfin sehen, wie blass er auf einmal war. Offensichtlich hatte er sich die ganze Zeit in der Rolle des heldenhaften Retters gewähnt und darüber ganz vergessen, sich mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. »Nein«, lenkte sie rasch ein, um ihn zu beruhigen. »Nein, das wollen wir nicht. Wir müssen abwarten, was wird, aber es ist...«
»... nicht ausgeschlossen.«
Finearfin warf Durin einen finsteren Blick zu. Wie konnte er nur so taktlos sein? Sie hatte lange mit ihm darüber gesprochen, was sie tun konnten, und viele Möglichkeiten erwogen und verworfen. Letztlich scheiterten alle daran, dass keiner von ihnen wusste, wie die Zeremonie ablaufen und welche Rolle Caiwen
darin spielen würde. Dessen ungeachtet war Finearfin nach wie vor fest entschlossen, Caiwen lebend aus diesem Feuerberg zu befreien, nicht nur um ihrer selbst willen, auch um das Zweistromland vor den Eisdämonen zu schützen. Allerdings war das nur das eine Problem. Wie sie die Insel verlassen konnten, darauf hatte Finearfin ebenfalls noch keine Antwort gefunden. Bei ihr endete jeder Plan am Ufer des Ozeans der Stürme.
»Wir werden einen Weg finden«, sagte sie lächelnd und legte alle Zuversicht, die sie aufbringen konnte, in ihre Worte. »Es wird alles gut. Du wirst sehen.«
Sie hatte den Satz gerade beendet, als der Berg erneut zu rumoren begann. Der Boden erzitterte und kleine Steine lösten sich von der Höhlendecke. Diesmal gab es keinen Zweifel mehr daran, dass die Erdstöße mit jedem Mal heftiger wurden.
»Was ist das?«, hörte sie eine junge Elfe, die nicht weit entfernt stand, mit angstgeweiteten Augen fragen.
»Ich weiß es nicht.« Der junge Elf an ihrer Seite zog bedauernd die Schultern in die Höhe. »Vielleicht spürt der Berg, dass wir ihn verlassen wollen, und zürnt uns.«
»Der Berg ist schon oft unruhig gewesen«, bemerkte eine gebeugte Elfe mit verhülltem Gesicht. »Ich bin sicher, es legt sich wieder, wie immer.«
»Nimeye hat uns mit ihrer Magie zweihundert Winter vor dem Feuer im Berg beschützt«, warf ein anderer Elf ein. »Sie wird nicht zulassen, dass uns etwas geschieht.«
Ein Raunen lief durch die Menge und lenkte die Aufmerksamkeit der Elfen auf den Durchlass hinter dem Steinpodest, wo Bewegung in die Schatten kam. Drei Elfen traten auf die Empore und entzündeten Schalen mit rauchlos brennendem Öl. Die vierte schlug mit einem Schlägel gegen ein großes kupfernes Becken. Ein dumpfer Ton erklang, und es wurde still, während sich aus dem Dunkeln hinter dem Tunnel eine fackeltragende Prozession näherte.
»Da ist Caiwen!«, raunte Heylon Finearfin zu, als Nimeye und ihre Enkelin nebeneinander die Empore betraten. »Den Göttern sei
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