Das Vermächtnis der Feuerelfen
Wasser!
Ruckartig richtete Caiwen sich auf und wäre fast von der schmalen Planke gerutscht, auf der sie lag. Eine dicke, helle Rauchwolke, die nicht weit entfernt über dem Meer aufstieg, bestätigte ihr, was sie kaum glauben konnte. Sie war nicht tot. Jedenfalls noch nicht. Irgendwie war es Heylon gelungen, sie zu retten und auf dieses Brett zu ziehen. Er selbst schwamm nebenher und führte das behelfsmäßige Schiffchen.
Die Vulkaninsel gab es nicht mehr, die Explosion hatte sie zerschmettert und im Meer versinken lassen, so wie sie vor vielen
Hundert Wintern daraus aufgetaucht war. Nur die Rauchsäule erinnerte noch an den Ort, wo sie einst gelegen hatte.
Als Caiwen den Blick über das Meer schweifen ließ, entdeckte sie Dutzende von Überlebenden, die sich an Trümmer klammerten, aber auch die Körper unzähliger Toter, denen die Flucht ins Wasser keine Rettung hatte bringen können. Ganz in der Nähe sah sie Durins kahlen Schädel aus dem Wasser ragen. Gemeinsam mit Finearfin klammerte er sich an eine der Planken, auf der ein schwarzes Bündel ruhte …
Vater!
»Wie fühlst du dich?« Heylons Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Sie schaute ihn an und sah, dass sich seine Lippen bereits blau verfärbt hatten. Plötzlich schämte sie sich, halbwegs im Trockenen zu liegen, während er schon wer weiß wie lange bis zu den Achseln im Wasser steckte.
Welche Ironie des Schicksals. Sie hatten das Inferno überlebt, um nun jämmerlich zugrunde zu gehen. Verdursten, erfrieren, ertrinken... es stand ihren frei, die Todesart selbst zu wählen.
Aber noch war es nicht so weit. Noch lebten sie. »Komm herauf«, forderte sie Heylon auf, ohne seine Frage zu beantworten. »Hier ist Platz für uns beide.«
»Nicht nötig.« Heylon schüttelte den Kopf. »Wir sind bald im Trocknen.«
»Wie meinst du das?« Caiwen runzelte die Stirn,
»Er meint es so, wie er es gesagt hat.« Eine Raubmöwe landete flügelschlagend auf der Planke, legte den Kopf schief und schaute Caiwen an.
»Saphrax?« Caiwen blinzelte verwirrt. »Bist du es wirklich?«
»Wie viele sprechende Raubmöwen hast du in deinem Leben schon getroffen?« Die Möwe schüttelte ihr rußverschmiertes Gefieder. Einige Federn waren angesengt, andere fehlten. Caiwen starrte die Möwe an wie einen Geist. »Aber du bist doch tot.«
»Tot?« Saphrax ließ ein Kreischen ertönen, das einem Lachen
sehr ähnlich war. »Du meist, weil ich mit dieser Dämonin in den Schlund gestürzt bin?« Er lachte wieder und schüttelte den Kopf. »Du musst noch viel über Wechselwesen lernen.«
»Du hast die Wächterstatue vor dem Feuer gerettet.« Mit zitternden Händen holte Caiwen die Figur der Schlangenkriegerin unter ihrem Gewand hervor. »Und du hast mir das Leben gerettet. Du bist ein Held. Wenn wir das hier überleben und nach Tamoyen zurückkehren, werde ich mich persönlich beim König der Elfen dafür einsetzen, dass du für den Rest deines Lebens als Ehrengast im Zweistromland leben kannst.«
»Klingt verlockend.« Obwohl es mit dem Schnabel eigentlich unmöglich war, glaubte Caiwen, Saphrax lächeln zu sehen. »Dann leg dir schon mal die richtigen Worte zurecht.«
»Warum?«
»Sieh selbst.« Saphrax breitete die Flügel aus und flog auf.
Caiwen drehte sich um und schnappte nach Luft.Am Horizont waren Segel zu sehen. Ein Dutzend und mehr weiße, dreieckige Segel über schlanken, schnellen Schiffen, die sich ihnen rasch näherten.
»Schiffe?« Caiwen glaubte zu träumen.
»Elfenschiffe.« Heylon lachte.
»Aber wie...?« Caiwen blinzelte verwirrt.
»Das haben wir deinem Vater zu verdanken«, erklärte Heylon. »Vor unserem Aufbruch sandte er eine Nachricht an den Elfenkönig, erhielt aber keine Antwort. Jetzt sind sie da: spät, aber nicht zu spät. Wir sind gerettet.«
EPILOG
W ie ein Vorbote des nahen Frühlings schmetterte ein kleiner Vogel sein Lied in den Morgen, als die Sonne drei Tage später ihr Antlitz über den Horizont erhob.
Caiwen und Heylon standen allein auf den Klippen westlich von Arvid und ließen den Blick über die endlose Weite des Wassers schweifen. Der Ozean der Stürme war ungewöhnlich ruhig an diesem Tag, ganz so als spüre er die Trauer, die die beiden in ihren Herzen trugen.
Verbrennt meinen Körper auf der höchsten Klippe Tamoyens und übergebt die Asche dem Wind.
So hatte es sich Caiwens Vater gewünscht und so würde es geschehen. Die ganze Nacht hatten sie an seinem Totenfeuer Wache gehalten und sich gegenseitig Trost gespendet.
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