Das Vermächtnis der Feuerelfen
die Finearfin sich nicht entgehen lassen durfte. Mit wenigen Schritten erreichte sie die Planke gerade in dem Augenblick, da der Schwarze den Kai betrat.
»Verzeih - Bruder.« Finearfin betonte die Anrede ganz bewusst so, dass der Schwarze sich erkannt fühlen musste.
»Ah, du bist es - Schwester.« Er schien nicht im Mindesten überrascht zu sein, sie zu sehen. Jetzt, da sie neben ihm stand, bemerkte sie, dass er selbst für einen Elfen ungewöhnlich groß war. »Ich wusste, du würdest nicht fortgehen.«
»So?« Finearfin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. »Warum?«
»Weil du Fragen hast.«
»Die hatten alle hier.«
»Aber deine Fragen sind nicht die ihren.«
»Das ist nicht schwer zu erraten.« Finearfin machte eine beiläufige Geste mit der Hand. »Elfen fahren nicht zur See. Es gibt niemanden, um den ich mich sorgen müsste.«
»Das stimmt nicht.« Die Schärfe in der Stimme des Schwarzen erschreckte Finearfin. Was wusste er?
»Auch du bist auf der Suche nach jemandem, dessen Schicksal dich bewegt«, fuhr der Schwarze fort. »Aber mehr noch als das bist du auf der Suche nach der Wahrheit. Doch das, Schwester, sollten wir besser nicht hier besprechen.« Der Elf drehte sich um und bedeutete Finearfin, ihm zu folgen. Zielsicher führte er sie durch die verwinkelten Gassen zu einem baufälligen Lagerschuppen, in dem ein altes Fischerboot, Netze, Kisten und allerlei andere Gerätschaften darauf warteten, dass man sich ihrer erinnerte.
»Dein Heim?« Zögernd wagte Finearfin den Schritt aus dem Licht ins Dunkel hinter dem verwitterten Tor. Es dauerte einige Herzschläge, bis sich ihre Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten, gefährliche Momente, in denen ihre Sinne in höchster Alarmbereitschaft waren. Sie traute dem Schwarzen nicht. Dass er sie in eine Falle lockte, erschien ihr ebenso wahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass er ihr helfen würde. Erst als sie sicher war, dass es hinter dem Tor keine Anzeichen von Gefahr gab, wagte sie sich weiter in den Raum hinein.
»Nur eine von vielen Zufluchtsstätten.« Inmitten der Schatten war der Elf kaum zu erkennen. Finearfin ahnte seine Nähe mehr, als dass sie ihn sah, aber sie spürte die Trauer in seiner Stimme, als er hinzufügte: »Die Zeiten, da ich ein Heim hatte, sind lange vorbei.«
»Du stammst aus dem Zweistromland?« Finearfin entdeckte den Schwarzen nahe einem Stapel von Kisten, wo er sich niedergelassen hatte, und gesellte sich zu ihm.
»Das ist nicht die Frage, die dich zu mir führt.« Die leise Vertrautheit, die sich für einen Moment zwischen ihnen eingestellt
hatte, war verflogen. Finearfin ahnte, dass der Elf mit den wenigen Sätzen mehr von sich preisgegeben hatte, als ihm lieb war, und war klug genug, nicht weiter in ihn zu dringen. »Das ist richtig«, lenkte sie ein. »Aber ich weiß auch gern, mit wem ich es zu tun habe.«
»Du hast mich gesucht, nicht ich dich«, erinnerte sie der Schwarze. »Es steht dir frei, wieder zu gehen.«
»Also schön, dann wähle ich eine andere Frage.« Finearfin seufzte. »Woher kennst du die Namen der Toten? Kannst du wirklich mit den Möwen sprechen, sind sie es, die sie dir verraten?«
Der Schwarze antwortete nicht sofort. »Ja und nein«, sagte er schließlich so langsam, als müsse er jedes Wort sorgfältig abwägen. »Ich spreche mit ihnen, das ist wahr. Aber nicht so, wie die Menschen es sich vielleicht vorstellen. Die Möwen bringen mir Bilder von fernen Orten und Ereignissen.«
»Dann siehst du die Schiffe versinken?«, hakte Finearfin nach.
»Ja.« Der Schwarze nickte. »Ich sehe das Unglück mit den Augen der Möwen. Die Schiffe im Hafen von Arvid sind mir alle wohlvertraut. Ich erkenne sie sofort. So weiß ich immer, wer nicht zurückkehren wird.«
»Aber die Namen? Wie...?«
»Die Namen der Seefahrer«, fiel der Elf ihr ins Wort, »erhalte ich von den Schiffseignern.«
»Von den Eignern?« Finearfin war fassungslos. »Warum?«
»Die Zeiten sind hart. Auch ein Elf muss irgendwie überleben.« Seiner Stimme glaubte Finearfin anzumerken, dass er lächelte. »In den ersten Wintern habe ich lediglich die Namen der Schiffe verkündet, die gesunken sind, denn ich glaubte, die Menschen hätten ein Recht, es zu erfahren. Damals hielt man mich für einen Betrüger, der sich am Unglück anderer ergötzt. Man beschimpfte und verhöhnte mich. Aber dann erkannten die Menschen, dass ich die Wahrheit spreche. Fortan kamen sie nach jedem Sturm an den Hafen und gaben mir eine
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