Das Vermächtnis der Feuerelfen
Elfen besaßen nur die wenigsten diese Fähigkeiten, die zu nutzen sie zudem in Hunderten Wintern harter Arbeit erst erlernen mussten.
Für Finearfin war der Mann nichts weiter als ein Scharlatan, der es verstand, sich wichtig zu machen. Wenn die Bedienung im Hölzernen Fass recht hatte und seine Todesbotschaften stets der Wahrheit entsprachen, steckte vermutlich nur ein guter Trick dahinter.
Finearfin schloss die Augen, schob alle störenden Empfindungen beiseite und richtete ihre Sinne allein auf den Schwarzen. Was sie spürte, traf sie völlig unvorbereitet. Da war eine ungeheure Aura von Macht, die den geheimnisvollen Mann wie eine unsichtbare Hülle umgab. Eine Macht, die Finearfin nie zuvor bei einem Menschen gespürt hatte. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob sie es hier wirklich mit einem Betrüger zu tun hatte. Außerdem... Finearfin schnappte nach Luft, als sie ihren Irrtum erkannte: Dort oben auf der Brücke stand kein Mensch. Der Schwarze war ein Elf.
Die Verbindung brach ab. Finearfin fühlte den Blick des Schwarzen auf sich ruhen und plötzlich hallten Worte durch ihr Bewusstsein: Willkommen, Schwester.
Ein Raunen lief durch die Masse, als der Schwarze nahezu im gleichen Atemzug die Arme in einer beschwörenden Geste hob. Die Möwen verstummten und suchten sich einen Platz dicht bei dem Elfen, der den Augenblick der Wahrheit geschickt noch etwas
hinauszögerte. Die Anspannung der Menschen auf dem Platz erreichte einen Punkt, an dem sie für Finearfin nur schwer zu ertragen war. Wie alle Elfen hatte auch sie schon früh gelernt, ihre feinen Sinne gezielt einzusetzen und vor Schaden zu bewahren. Die Wucht der Gefühle, die hier inmitten der Versammelten auf sie einströmten, war jedoch so gewaltig, dass sie die Barrieren um ihren Geist nur mit einer enormen Willensanstrengung aufrechterhalten konnte.
Dann begann der Schwarze zu sprechen.
»Domus Mitander... Falkon Demm … Geron Vittka!«
In wohl bemessenen Abständen rief der Schwarze scheinbar zusammenhangslos Namen in die Menge. Finearfin war überrascht. Nach dem perfekt inszenierten Auftritt hatte sie zur Einleitung mit einer dramatischen Rede gerechnet. Die nüchterne, emotionslose Art, mit der der Schwarze vielen der Umstehenden die Nachricht vom Tod ihrer Angehörigen überbrachte, füllte sie mit Entsetzen, als aus der Menge immer öfter verzweifeltes Weinen und Schreie zu hören waren. Unmittelbar neben ihr brach eine Frau bei einem Namen schluchzend zusammen. Eine andere schlug wie wild um sich und raufte sich die Haare, während sie immer wieder kreischte: »Nein! Nein! Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr!«
Die Unruhe nahm mit jedem Namen weiter zu. Jene, die noch hoffen konnten, versuchten, weiter nach vorn zu gelangen, um besser zu hören, während viele, deren schlimmste Befürchtungen sich bestätigt hatten, gramgebeugt den Hafen verließen. Am Ende waren es fast einhundert Namen - die gesamte Besatzung einer Viermastbark -, die der Schwarze zu verkünden hatte. Einhundert Seelen, die niemals nach Arvid zurückkehren würden.
Trotz seiner Aura fragte sich Finearfin wieder, woher er all die Namen wusste. Hatte er sie tatsächlich von den Möwen oder konnte er gar ins Reich der Toten blicken?
Finearfin nahm sich vor, den Schwarzen danach zu fragen. An
der Antwort würde sie erkennen, wie es um seine Glaubwürdigkeit bestellt war. Das war wichtig, um den Wert der anderen Antworten einschätzen zu können, die sie sich von ihm erhoffte.
Als der Schwarze verstummte, begannen die Menschen, ihn mit Fragen zu bestürmen. Finearfin hörte, wie ihm die Namen anderer Schiffe zugerufen wurden, in der Hoffnung, etwas über deren Schicksal zu erfahren. Aber der Schwarze gab keine Auskunft mehr. Was er zu sagen hatte, war gesagt. Wer nicht betroffen war, durfte zumindest an diesem Morgen auf eine glückliche Heimkehr seiner Lieben hoffen.
Als die Versammelten begriffen, dass sie nichts weiter erfahren würden, zerstreute sich die Menge. Zurück blieben einige wenige Menschen, die zu zweit oder in kleinen Gruppen zusammenstanden, aufgeregt diskutierten oder sich gegenseitig Trost spendeten.
Finearfin ließ den Schwarzen nicht aus den Augen. Er schien es nicht eilig zu haben. Liebevoll streichelte er die großen Raubmöwen, die ihm Gesellschaft leisteten, gab ihnen Futter und sprach leise zu ihnen. Erst als auch die letzte sich in die Lüfte erhob und davonflog, machte er sich daran, das Schiff zu verlassen - eine Gelegenheit,
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