Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
einlässt.“
Felicius nickte. Er hielt die Zügel ihres Pferdes, als sie aufsaß. Dann wandte er sich Arthenius zu. Die Brüder umarmten sich kurz, bevor Felicius zurücktrat.
Lange Zeit stand er in der Dunkelheit und sah ihnen nach. Immer wieder sagte er sich, dass er sich um Larenia und Arthenius keine Sorgen machen musste. Doch das unheilvolle Gefühl blieb.
401 – Priméa
„Irgendetwas stimmt hier nicht.“
Larenia hob den Kopf und sah sich um. Es war der Nachmittag des fünften Tages des neuen Jahres. Seitdem sie vor zwei Tagen Askana verlassen hatten, war ihnen kein Mensch mehr begegnet und heute Mittag hatten sie die Ausläufer des Waldes von Skayé erreicht. Jetzt jedoch zügelte Arthenius sein Pferd und blickte aufmerksam um sich.
„Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht!“, wiederholte er und sprang aus dem Sattel. Nachdenklich musterte er seine Umgebung, während er nach Worten suchte. Schließlich drehte er sich zu Larenia um: „Fühlst du das?“
Sie nickte und zog dabei die Augenbrauen zusammen.
„Leblos …“, flüsterte sie nach einer Weile, „hier ist alles tot.“
Arthenius starrte sie noch einen Augenblick lang an, bevor er sich abwandte und auf die nächstgelegene Baumgruppe zuging. Nach kurzem Zögern folgte ihm Larenia und dabei versank sie bis über die Knie im Tiefschnee. Mit einem schadenfrohen Grinsen beobachtete Arthenius, wie sie sich aus der Schneewehe befreite. Dann fiel sein Blick auf einen Punkt hinter ihr und sein Lächeln erstarrte. Und plötzlich war da etwas in seinem Gesicht, das sie warnte. Etwas war hier geschehen, etwas Furchtbares, Schreckliches … Ohne darüber nachzudenken, ohne es überhaupt zu bemerken, schloss sich ihre rechte Hand um den Griff ihres Schwertes. Doch bevor sie die Bewegung zu Ende führen konnte, schüttelte Arthenius den Kopf und so ließ sie den Arm wieder sinken. Nach einem weiteren Moment des Zauderns drehte sie sich um und sah in die Richtung, in die Arthenius so konzentriert blickte.
Umso überraschter war Larenia, als sie dort nichts Besonderes entdecken konnte. Der Wald war hier noch sehr licht, der Weg, auf dem sie gekommen waren, gut zu erkennen, und die Bäume standen in kleinen Gruppen zusammen. Der noch immer sehr hoch liegende Schnee funkelte im Sonnenlicht und von den Bäumen tröpfelte leise Schmelzwasser. Alles hier wirkte sehr friedlich und unberührt von Krieg und Chaos. Mit einem ratlosen Schulterzucken sah sie Arthenius an. Aber dieser reagierte nicht auf ihren fragenden Blick, sondern deutete nur wortlos auf eine Stelle wenige Schritte von ihnen entfernt.
Auf einmal erkannte sie, was er meinte. Dort, an einen mächtigen Baumstamm gelehnt und halb unter einer dicken Eisschicht begraben, saß eine reglose Gestalt. Sie wäre vollkommen unsichtbar gewesen, hätte sich nicht das dunkle Grün eines Waldläufermantels verräterisch von der verschneiten Landschaft abgehoben. Der Anblick war so absurd, dass es eine Weile dauerte, bis Larenia begriff, was sie da sah.
Für einen winzigen Augenblick widerspiegelten sich Schock und Entsetzen in ihrem Gesicht. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie Arthenius, der inzwischen näher getreten war und sich über die leblose Person beugte. Dann biss sie sich auf die Unterlippe und mit lange geübter Disziplin fand sie zu ihrer gewohnten Ruhe zurück.
„Ein Waldläufer?“, obwohl sie sehr leise sprach, erschien ihr der Klang ihrer eigenen Stimme unnatürlich laut.
Arthenius nickte, ohne sich umzudrehen: „Ein toter Waldläufer, ja“, er wischte etwas Schnee weg und sah nun doch zu Larenia auf, „er wurde ermordet. Siehst du?“
Er drehte den Kopf des Toten, sodass Larenia die zerstörte rechte Seite des Schädels sehen konnte.
„Hier sind noch mehr“, bemerkte sie, nachdem sie ihre Umgebung erneut konzentriert gemustert hatte, „Waldläufer, Gesetzlose, Brochonier“, mit einer vagen Handbewegung deutete sie auf eine Baumgruppe ein kleines Stück von ihnen entfernt, „was ist hier nur geschehen?“
Es war eine rhetorische Frage, dennoch richtete sich Arthenius auf und sah sie einen Augenblick lang scharf an.
„Larenia …“, begann er, doch dann seufzte er nur und verstummte. Sie musste ebenso gut wie er wissen, was all das zu bedeuten hatte, wahrscheinlich sogar besser. Er konnte sie nicht zwingen, die moralischen Abgründe im Handeln der Menschen und Kandari zu akzeptieren. Wenn sie die Augen vor der Wirklichkeit verschließen wollte,
Weitere Kostenlose Bücher