Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
die Brochonier und die Menschen von Anoria. Zuerst hatte sie die Angst vor ihren eigenen Fähigkeiten gelähmt und nun war es das Wissen um ihre Kräfte, das sie zu dieser Lüge zwang. Niemand, nicht einmal Pierre oder Philipus, die alles andere wussten, ahnte, dass sie weder den brochonischen Widerstand noch die Kandari brauchte, um mit ihren Feinden fertigzuwerden, zumindest jetzt nicht mehr, nachdem sie sich entschieden hatte, ihre ganze entsetzliche Macht einzusetzen. Doch noch immer fühlte sie sich durch einen Eid gebunden, den sie vor über dreihundert Jahren geschworen hatte. Dies war ihre letzte Möglichkeit, ihr Versprechen zu erfüllen, ihre einzige Chance, die absolute Macht der Bewahrer zu erschüttern. Vielleicht war es Wahnsinn, vielleicht hatte François recht und sie riskierte leichtfertig das Leben unzähliger. Und dennoch … Hierbei ging es um mehr als das Schicksal ihres Volkes. Seitdem sich Menschen und Kandari vor Beginn des ersten Zeitalters voneinander getrennt hatten, war Metargia von Gewalt, Grausamkeit und Krieg geprägt gewesen. Möglicherweise erkannten sie jetzt, dass sie für das Gleiche kämpften, gegen Unterdrückung, für Freiheit, Toleranz und Unabhängigkeit. Und wenn es ihr Leben kostete, die Menschen und Kandari das begreifen zu lassen, war es ein angemessener Preis. Dann sah sie in Arthenius’ ernste graue Augen und begann erneut, zu zweifeln. Nicht unbedingt an ihrem Entschluss, wohl aber an ihrem Verhalten gegenüber den anderen Gildemitgliedern. Sie und Arthenius hatten immer alles geteilt, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Die eisige Stille, die sie sich jetzt abverlangte, tat weh. Dennoch war es die einzige Möglichkeit, die sie erkennen konnte, wie sie ihren Schwur erfüllen und gleichzeitig Arthenius’ Leben retten konnte. Er würde nicht zögern, alles zu riskieren, um sie zu beschützen, wie er es schon einmal nach dem Aufstand in Anaiedoro und während der Schlacht um Arida getan hatte. Aber das durfte nicht geschehen. Felicius hatte recht gehabt. Arthenius war der Einzige, für den sie alles vergessen, jedes Ideal, ihr Volk, das Wohlergehen der Menschen von Anoria, das ihr sehr viel bedeutete, und den Eid, der ihr Leben bestimmt hatte, aufgeben würde. In welche Richtung sie auch blickte, für sie gab es keinen Ausweg. Ihr blieb nur die Entscheidung, was sie bereit war zu opfern. Der Entschluss wäre ihr leichtgefallen, doch mit ihren überreizten empathischen Fähigkeiten fühlte sie ständig Arthenius’ Besorgnis, seine Liebe und Fürsorge, und die Erkenntnis füllte ihr Bewusstsein, dass, egal was sie tat, sie ihn verletzen würde. Sie hatte nicht mehr die Kraft dazu, zwischen seinen Gedanken und Emotionen und den ihren zu unterscheiden. In Augenblicken wie diesem fühlte sie sich unglaublich müde. Sie war die ewigen Geheimnisse leid und dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als den Weg, für den sie sich entschieden hatte, weiter zu verfolgen.
„Bitte …“, flüsterte sie und schlug die Augen nieder. Sie konnte seinem warmen, fragenden Blick, der durchaus nicht aufdringlich war, nicht mehr standhalten. „Ich kann dir nicht mehr sagen. Und ich möchte nicht lügen. Ich kann es nicht mehr …“
„Ich will dir nicht wehtun“, ihr erschöpfter Gesichtsausdruck, der ihn so entsetzt hatte, wich der unmenschlichen Ruhe, die kennzeichnend für sie war, aber Arthenius kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie noch nicht zu ihrem stoischen Gleichmut zurückgefunden hatte. „Und ich werde dich nicht fragen. Aber vergiss nicht, dass ich da bin, wenn du Hilfe brauchst“, er lächelte, doch es wirkte traurig, „ich kann dich nicht leiden sehen. Wahrscheinlich liebe ich dich einfach zu sehr.“
Ein schmerzliches Lächeln glitt über ihr Gesicht, aber sie sagte nichts mehr. Nach einer Weile bemerkte Arthenius in verändertem Tonfall: „Wenn wir uns beeilen, können wir heute noch Skayé erreichen.“
Larenia nickte. Inzwischen wirkte ihre Miene wieder undurchdringlich und Arthenius wusste, dass jedes weitere Wort sinnlos war. Sie würde ihm nicht mehr zuhören.
Skayé hatte sich äußerlich nicht verändert seit Larenias letztem Besuch. Mehr denn je schienen die Häuser und Wege Teil des Waldes zu sein, aber die lebhafte Fröhlichkeit, die einst das Stadtbild geprägt hatte, war spurlos verschwunden. Von den mehr als zweihundert Einwohnern Skayés waren kaum fünfzig übrig geblieben. Die anderen waren geflohen oder in den Krieg gezogen und jene,
Weitere Kostenlose Bücher