Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
gesehen hatte. Mit alldem hätte er umgehen können, aber da war gar nichts, nicht die geringste Gefühlsregung, nur absolute Leere. Und ihre wunderschönen dunklen Augen, die stets von Licht erfüllt zu sein schienen, wirkten erloschen und voll unüberwindbarer Fremdheit. Er wollte sie berühren, irgendetwas sagen, aber sie wandte den Blick ab und ging schnell an ihm vorbei. Er wusste nicht, was sie diese absolute Ruhe gekostet hatte, wie viel Kraft es erfordert hatte, jede Emotion, selbst die Erinnerung daran, was es bedeutet hatte, etwas zu fühlen, in ihr Unterbewusstsein zu verdrängen. Der Gedanke, dass sie die Wahl gehabt hatte, schmerzte, doch es gab schon lange kein Zurück mehr. Und dies war für sie der einzige Weg, ihre Aufgabe ohne Zögern und Zweifeln zu erfüllen.
Julius erzählt:
Dieser erste Monat des Jahres war furchtbar. Die Euphorie des Mittwinterfestes verging sehr schnell und zurück blieb Ernüchterung und dumpfe Verzweiflung. Als der Schneesturm aufgehört hatte, begann mein Vater, die Stadt zu räumen. Er schickte all die Fischer und Handwerker nach Askana und schließlich blieben nur die Soldaten aus Ariana und die Männer der Garde in Arida zurück.
In den folgenden Tagen beobachtete ich, wie sich die Straßen der Stadt leerten. Das Klirren der Waffen, wenn sich die Männer im Schwertkampf übten, das Stimmengewirr, all diese Geräusche verstummten und schließlich blieb nichts außer tiefem, hoffnungslosem Schweigen. Wenn ich jetzt durch die verschneiten Straßen ging, fühlte ich mich verloren. Immer wieder blieb ich stehen und drehte mich um, weil ich glaubte, eine Bewegung hinter mir zu sehen oder Stimmen zu hören, bis mir dann bewusst wurde, dass es nur Erinnerungen waren, Wunschträume. Nichts würde jemals wieder so sein wie früher. Niemals würde ich dieses Gefühl der Leere, der Verlassenheit vergessen.
Und dann kam der Tag, an dem Elaine Arida verließ. Ich hatte gewusst, dass dieser Moment kommen musste, dennoch tat es unglaublich weh. Solange sie bei mir gewesen war, hatte ich stets vor Augen gehabt, wofür ich kämpfte. Elaine verkörperte für mich die Zukunft, die ich mir wünschte, für die ich alles riskieren würde. Und jetzt war sie weg und die Welt um mich herum verfinsterte sich. An dem Tag, an dem sie Arida verließ, stand ich auf dem höchsten Punkt der Stadtmauer und sah ihr nach. Ich dachte an ihr Lächeln, den warmen Klang ihrer Stimme und daran, wie sehr ich sie liebte. Dann wurde mir bewusst, dass ich sie vielleicht nie wieder sehen würde. Heute weiß ich nicht mehr, was ich in diesem Augenblick empfand. Ich stand auf der Mauer, bis die Dunkelheit hereinbrach, ohne zu denken oder zu fühlen. An diesem Tag erschien mir alles grau, leer und hoffnungslos. Doch ich war zu jung, um meinen Tod als unausweichlich hinzunehmen, und so begann ich, nach einem Ausweg zu suchen. Erneut betrachtete ich die Verteidigungsanlagen der Stadt. Wir hatten sie ausgebessert, trotzdem würden wir einem Angriff wenig entgegensetzen können. Arida war keine Festung. Darum fing ich an, nach möglichen Fluchtwegen zu suchen. Die Brochonier würden die Stadt umstellen und uns umzingeln, aber es musste einen Weg geben, aus der Stadt zu entkommen. Tagelang brütete ich über den Stadtplänen. Arida war nach einem einfachen Prinzip erbaut worden: drei Ringe mit vier Toren, eines in jeder Himmelsrichtung. Keine Nebeneingänge, geheime Wege oder Tunnel, die aus der Stadt hinausführten. Selbst damals, während der ersten Schlacht, war es schwierig gewesen, in den inneren Ring vorzudringen, obwohl die Brochonier uns nicht vollständig eingekreist hatten. Ohne Larenia und ihre magischen Fähigkeiten hätte ich es nicht geschafft. Aber dieses Mal würde sie nicht da sein. Die Stadt der Könige war eine Falle und wir, wir waren der Köder. Jetzt erst begann ich, wirklich zu begreifen, warum mein Vater alle wegschickte bis auf einige wenige. Selbst Logis, einem der besten Heerführer in Anoria, hatte Julien befohlen, zu gehen. Ich glaube, es war das erste Mal, dass er sich gegenüber seinem besten Freund auf seine königliche Autorität berief. Aber ich war froh darüber, denn in Askana war er ebenso wie Elaine wenigstens vorläufig in Sicherheit. Tarak dagegen, der Hauptmann der Garde, blieb ebenso wie Dalinius und François. Die anderen Gildemitglieder allerdings gingen nach Askana. Nicht freiwillig, das hatte ich aus ihrer ziemlich lautstarken Auseinandersetzung herausgehört.
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