Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
alten Frau und das ferne Rauschen des Windes. Mit einem tiefen Seufzen wandte er seinen Blick nach Süden in das Landesinnere. Hier ruhten all ihre Hoffnungen …
Über dem Meer verdunkelte sich an diesem Morgen der Himmel. Eine heftige Böe zerrte an Pierres Mantel und sein Haar flatterte im Wind, als er an die Reling des Schiffes trat. Anoria, dachte er, als er mit den Augen den Horizont absuchte. Beinahe glaubte er, die Steilküste Aquaniens in der Ferne erkennen zu können. So begann es also …
Julius erzählt:
Sécunda, ein weiterer Monat des Wartens. Jeden Tag warteten wir auf Nachrichten, eine Botschaft von unseren Spähern, irgendetwas, doch die Mitteilung, die wir fürchteten, kam nicht. Von den Brochoniern, aus Askana und von Larenia und den Kandari nichts als Schweigen.
Einen Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit meinem Vater. Es war sonderbar. Nach all den Jahren, in denen Julien zu beschäftigt gewesen war und ich keinerlei Interesse gehabt hatte, hätten wir viel zu bereden haben müssen. Doch dem war nicht so. Meistens saßen wir da, ohne zu reden, einfach nur in vertrautes Schweigen gehüllt und dennoch fühlte ich mich meinem Vater näher als je zuvor. Vielleicht lag es nur an unserer ausweglosen Situation oder daran, dass uns die Gesellschaft des anderen als eine der wenigen Konstanten erschien, die uns aus unserer Vergangenheit erhalten geblieben waren. Ich weiß es nicht. Möglicherweise hielt ich diese kurze Zeit, die uns vor dem Angriff noch blieb, für meine letzte Chance, bei meinem Vater, noch einmal Kind sein zu können, denn was immer auch geschehen würde, die Verantwortung für die Zukunft Anorias lag in meinen Händen.
Und dann brach der letzte Tag des Monats an. Ich betrat im ersten Morgenlicht den Thronsaal, als einer der Späher mit vom Wind gerötetem Gesicht in die Halle gestürmt kam. Noch bevor der Mann zu sprechen begann, hatte ich das Gefühl, dass die Zeit, die in den letzten Monaten stillzustehen schien, wieder weiterlief und Arida erneut in den Mittelpunkt der Geschehnisse rückte.
„Wir haben Schiffe gesichtet, mein König, vor der Küste bei Magiara“, der Mann kniete nieder und verharrte mit gesenktem Kopf vor Juliens Thron.
Der König erhob sich und strich sich nachdenklich über das Kinn: „Schiffe? Wie lange wird es dauern, bis sie Arida erreichen?“
„Zwei Tage, mein Herr“, der Bote hob den Kopf, „vielleicht weniger.“
„Und wie viele Schiffe sind es?“, kaum hörbar schwang Resignation in der Stimme des Königs mit.
Der Späher zuckte mit den Schultern: „Sechs, mindestens. Aber sie sind zu weit entfernt, um es mit Sicherheit sagen zu können.“
Julien nickte, als hätte er nichts anderes erwartet, dann wandte er sich an einen Soldaten, der bisher im Hintergrund gestanden hatte: „Gib dem Mann etwas zu essen, bevor er auf seinen Posten zurückkehrt.“
Der Gardist verneigte sich und die beiden Männer verließen den Thronsaal. Kaum war die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen, wandte der König sich an seinen Sohn: „Gibt es Berichte von den anderen Spähern?“
Kopfschüttelnd trat Julius näher: „Nein. Im Süden ist alles ruhig. Die Brochonier werden uns nur vom Meer her angreifen.“
Julien sah ihn mit einem kurzen, ironischen Lächeln an, bevor er an ihm vorbei zu Tarak, dem Hauptmann der Garde ging: „Ist alles vorbereitet?“
Der Gardist nickte wortlos und Julien klopfte ihm auf die Schulter. Dann wandte er sich wieder um und lächelte, als er in das misstrauische Gesicht seines Sohnes, in die besorgten, verängstigten Mienen von Dalinius und Raphael blickte: „Jetzt wissen wir immerhin, womit wir es zu tun haben“, er wartete einen Moment, doch da die Angst nicht aus dem Gesichtsausdruck seiner Zuhörer wich, sprach er weiter: „Lasst uns noch einmal über unsere Strategie nachdenken. Tarak, wie viele Gardisten sind noch in Arida?“
Der Hauptmann zuckte mit den Schultern: „Dreihundert, mein König. Doch selbst mit tausend Mann –“
Julien unterbrach ihn mit einer Handbewegung: „Das spielt keine Rolle. Unsere Aufgabe ist es, die Brochonier aufzuhalten, nicht, sie zu besiegen. Und das schaffen wir mit dreihundert ebenso gut wie mit tausend oder zweitausend.“
„Gibt es wirklich keine Hoffnung?“, Raffi, der Sohn des Terranier-Fürsten sah den König an, als erwache er aus einem Albtraum. „Was ist mit den Kandari? Sie haben Arida schon einmal aus einer hoffnungslosen Situation
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