Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Schatten standen sie auf der Mauer, bereit, ihre Heimat bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Nur der Regen, der in Strömen fiel, war zu hören. Der Regen und der Wind.
Dann wandte Julius seinen Blick vom Hafen ab und sah nach Osten. Weit entfernt, noch kaum zu erkennen, rötete sich der östliche Himmel und langsam wich die Schwärze der Nacht dem ersten klaren Morgenlicht.
Die Hand des jungen Prinzen schloss sich um den Griff seines Schwertes und lautlos zog er die Klinge aus ihrer Scheide. Die Männer neben ihm, die seine Bewegung sahen, spannten sich und blickten mit geschärfter Aufmerksamkeit auf das Heer ihrer Feinde herab.
Sie waren bereit.
Ein einzelner Sonnenstrahl durchdrang die dichte Wolkendecke. Im gleichen Moment erschallten die Hörner im Hafen von Arida und ließen die Stadt mit ihrem gewaltigen Klang in ihren Grundfesten erbeben. Selbst Julien, der tief in seine Erinnerungen versunken im Thronsaal saß, hörte es und hob ruckartig den Kopf. Seine Gedanken wanderten zu seinem Sohn, der mit erhobenem Arm auf der Mauer stand und ihrem Feind entgegenblickte.
Und die Brochonier kamen. Laut und donnernd hallten ihre Schritte von den gepflasterten Straßen wider, als sie die riesigen Schiffe verließen.
Julius presste die Lippen aufeinander und verbannte jeden Gedanken an den Ausgang des Kampfes aus seinem Bewusstsein. Überdeutlich hörte er, wie fünfzig Pfeile nahezu gleichzeitig aus ihren Köchern gezogen wurden. Aus dem Augenwinkel sah er, dass seine Männer ihre Bögen spannten. Auch die Bogenschützen, die auf den Dächern der Häuser positioniert waren, nahmen ihre Posten ein.
Inzwischen rückten die Brochonier immer näher. Schon konnte der junge Prinz die Einzelheiten ihrer Rüstungen erkennen, die Kettenhemden unter den schwarzen Mänteln, ja sogar die Gesichter unter den wuchtigen Helmen. Julius ließ sie noch näher kommen. Er wartete, bis ihre Feinde in Schussweite waren. Erst dann ließ er seinen Arm sinken und gab so, noch immer ohne zu sprechen, den Befehl zum Schießen.
Die Pfeile zischten dicht an Julius’ Kopf vorbei. Mit den Augen folgte er ihrer Flugbahn, er beobachtete, wie sie auf das Heer der Brochonier herabhagelten. Sie hatten gut gezielt, aber was konnten hundert Bogenschützen gegen diese riesige Armee ausrichten? Sie schossen Pfeil auf Pfeil ab, bis ihre Köcher leer waren. Aber die Brochonier rückten weiter vor.
Von seinem Standpunkt aus konnte Julius beobachten, wie die Anorianer in ihren Verstecken Schwerter und Dolche zogen. Sie griffen die Flanken des gegnerischen Heeres an, und obwohl es ihnen gelang, die Brochonier in Zweikämpfe zu verwickeln und so die Zahl ihrer Feinde zu dezimieren, war es hoffnungslos. Es waren einfach zu viele.
Im Meer der Kämpfenden erkannte er François, der sich mit Schwert und Dolch einen Weg durch das Getümmel bahnte. Der Kampfstil des Kandari ähnelte in keiner Weise dem kunstvollen Gefecht, das er auf dem Übungsplatz zwischen Larenia und Arthenius beobachtet hatte. Er bewegte sich schnell und mit tödlicher Präzision, doch darin lag keine Kunstfertigkeit mehr.
Langsam verging der Tag und Julius hatte längst den Überblick verloren. Noch gelang es den Verteidigern, die Kämpfe auf den Hafen zu begrenzen, doch welche Opfer sie dafür bringen mussten, wusste der junge Prinz nicht.
Schließlich brach die Dämmerung herein und es entstand eine Pause in den Kampfhandlungen. Sie hatten einen Tag gewonnen, einen einzigen Tag, doch der Preis dafür war hoch gewesen. Fünfzig Soldaten wurden vermisst. Niemand wusste, ob sie geflohen, verletzt oder tot waren, und jetzt, da der Hafen belagert wurde, konnte man sie nicht suchen.
Lange nach Sonnenuntergang kehrte Julius in den Palast zurück, nachdem er die Wachen für die Nacht eingeteilt hatte. Müde und frierend betrat er den Thronsaal und blinzelte überrascht, als er François hier traf. Der Kandari saß mit stoischer Miene auf einer Bank und schärfte sein Schwert. Seine Kleidung war mit Blut befleckt und er sah sehr müde aus, doch er schien unverletzt zu sein. Mit einem kurzen Nicken begrüßte er Julius, bevor er sich wieder seiner Waffe zuwandte. Irritiert blieb der Blick des Prinzen an ihm hängen, während er auf seinen Vater zuging.
„Sie haben sich auf ihre Schiffe zurückgezogen“, sagte Julius, als es ihm gelang, seine Aufmerksamkeit von François loszureißen, „die Brochonier formieren sich neu, doch wahrscheinlich werden sie nicht vor Sonnenaufgang
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