Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
über ihren Verdacht gesprochen, ihn aber überredet, diese Angelegenheit ihr zu überlassen. Trotzdem betrachtete Julien seine Umgebung mit anderen Augen. Er sah den Hauptmann der Wache, seine vielen Ratgeber und Höflinge und seine Bediensteten, die er sein Leben lang kannte, an und versuchte sich vorzustellen, dass einer von ihnen Anoria verraten hatte. Doch er konnte es nicht. Er hatte stets versucht, den Bedürfnissen aller gerecht zu werden. Er hatte die Abgaben niedrig gehalten, damit alle ein menschenwürdiges Leben führen konnten. Er hatte den Frieden im Land gewahrt und für Wohlstand gesorgt. Verbrechen hatte er mild und gerecht bestraft. Wer konnte ihn so sehr hassen, dass er König und Land ihren Feinden auslieferte?
Patricia entging die Änderung im Verhalten ihres Mannes nicht. Das Misstrauen des sonst so gutgläubigen Juliens war so auffällig geworden, dass die Königin beschloss, das Schloss zu meiden. Auf diese Weise, so hoffte sie, konnte sie auch der Gilde mit ihrer lästigen Fähigkeit, Gedanken zu lesen, aus dem Weg gehen. Entsprechend ihrer neuen Taktik ging sie am Abend des fünfzehnten Tages des achten Monats im Hafen spazieren. Juliens Angebot, ihr einen Leibwächter mitzugeben, hatte sie abgelehnt. Allerdings bereute sie diese Entscheidung, als sie leise Schritte hinter sich hörte. Ohne zu wissen, warum, hatte sie plötzlich Angst. Dies war Arida, die Hauptstadt ihres Königreiches. Niemand hier würde wagen, sie anzugreifen. Und dennoch fürchtete sie sich plötzlich. Sie beschleunigte ihre Schritte, um ihren Verfolger abzuschütteln, aber auch die Frequenz der Schritte hinter ihr nahm zu. Schließlich rannte sie beinahe, aber das Geräusch folgte ihr noch immer. Ohne es zu merken, war sie in ein verlassenes Stadtgebiet gelaufen. Jeder Laut hallte von den Wänden der leeren Häuser wider, das hastige Klappern ihrer Schuhe auf dem Stein der Straße, ihr keuchendes Luftholen und der Klang der Schritte ihres Verfolgers, der in perfekter Übereinstimmung mit den ihren erschallte. Endlich nahm Patricia ihren gesamten Mut zusammen und drehte sich um.
Die Straße hinter ihr war vollkommen leer. Kein Mensch war zu sehen, nichts, so weit ihr Auge reichte, nichts außer trüb-grauem Licht und Staub. Die Königin wagte ein vorsichtiges Aufatmen und wandte sich wieder um.
Sie wusste, dass es ein Fehler war, bevor sie die Bewegung zu Ende geführt hatte. Aus dem Augenwinkel sah sie das Flattern eines schwarzen Mantels im Wind. Dann fühlte sie den eisernen Griff einer großen Hand an ihrem Arm. In plötzlicher Panik wollte sie sich losreißen und davonlaufen, aber ihr fehlte die Kraft. Während sie noch verzweifelt darum kämpfte, fliehen zu können, erklang die ihr inzwischen schon bekannte, leise, spöttische Stimme an ihrem Ohr: „Was soll denn das, meine Königin? Ein Hauch von Vaterlandstreue? Oder wollt Ihr mich betrügen?“
Patricias Gegenwehr erlahmte. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Langsam und mit sinkendem Mut drehte sie sich zu dem brochonischen Druiden um.
„Was tut Ihr hier? Niemand darf Euch hier sehen“, sie konnte die Angst in ihrer Stimme nicht ganz unterdrücken. Sie hasste sich in diesem Augenblick für ihre Schwäche und wegen ihrer Unfähigkeit, sich der Macht des Druiden zu entziehen.
„Oh, habt keine Angst“, ihre Sorgen schienen ihn zu amüsieren, „ich weiß Bescheid über das Misstrauen der Kandari. Ihr wart ein nützliches Werkzeug, doch leider seid Ihr für uns nicht länger von Nutzen, wenn man Euch erwischt.“
Hinter dem Druiden traten zwei brochonische Krieger auf die Straße, die Hände am Griff ihrer Schwerter. Patricia blickte in ihre kalten, grausamen Gesichter und begann, unkontrolliert zu zittern.
„Und wenn Ihr uns nicht mehr nützt, seid ihr uns automatisch hinderlich. Und Hindernisse“, er verzog die Lippen zu einem eisigen Lächeln, „räumen wir aus dem Weg.“
Mit weit aufgerissenen Augen sah Patricia den Druiden an, ohne den Sinn seiner Worte zu verstehen. Dann begriff sie. Wie verrückt um sich schlagend und tretend versuchte sie, sich zu befreien, aber ihre Kraft reichte nicht aus. Hart und kalt beobachtete der Druide ihren verzweifelten Befreiungsversuch, ohne sie loszulassen.
„Ihr! Ihr hättet meinen Sohn beinahe umgebracht!“, schrie sie schließlich, als ihr die Ausweglosigkeit ihrer Situation klar wurde.
„Daran hättet Ihr früher denken sollen. Glaubt Ihr, meine Königin, dass Ihr Euer Volk verraten könnt, ohne
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