Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Sie glich kaum noch der gut aussehenden, stolzen Frau, die er in Erinnerung hatte. Ihr rotes Haar war verfilzt und glanzlos, der einst so lebenslustige Blick schien leer und erloschen. Ihre gebeugte Haltung ließ sie viel älter wirken und jetzt sah Julius auch die zahlreichen kleinen Fältchen in den Augenwinkeln und um den Mund.
Mit Tränen in den Augen und unfähig zu sprechen sah er sie an. Ihre Lippen bewegten sich, aber er verstand ihre Worte nicht.
„Warum?“, flüsterte er schließlich mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene erkannte, „Warum nur hast du das getan?“
„Ich habe es für uns getan“, sagte sie und Julius sah das wahnsinnige, fanatische Glitzern in ihren Augen, „unser Volk sollte endlich frei sein, über sich bestimmen dürfen, ohne die ständige Bevormundung durch die Gilde“, sie streichelte seine Wange. Das hatte sie früher, als er noch klein gewesen war, oft getan. „Du solltest der größte König seit Beginn unseres Königreiches werden. Zusammen hätten wir Großes vollbracht.“
Julius sah sie entsetzt an. Er hatte gegen jede Vernunft gehofft, dass alles nur ein Irrtum und Patricia unschuldig war.
„Hast du denn nie an die Folgen deines Handelns gedacht? An all die Menschen, die deinetwegen gestorben sind?“
Sie riss die Augen auf und wich entsetzt und mit einem irrsinnigen Leuchten in den Augen zurück: „Das war ich nicht! Es ist nicht meine Schuld. Ich wollte das alles nicht. Es ist nicht wahr, einfach nicht wahr …“
Sie setzte sich wieder auf das Bett und begann, den Oberkörper langsam hin und her zu wiegen.
„Ich war es nicht …“, murmelte sie immer wieder. Julius’ Anwesenheit hatte sie vollkommen vergessen.
Lange Zeit stand Julius da und sah sie an, hin und her gerissen zwischen Schock, Schmerz und Trauer um dieses letzte Stück Kindheit, das man ihm nun entrissen hatte. Schließlich sagte er laut in das Halbdunkel, obwohl er wusste, dass Patricia ihn nicht hörte: „Ich werde ein guter König sein. Und ich werde Großes vollbringen, wie du es dir gewünscht hast. Aber dein Weg kann nicht der meine sein.“
Zögernd trat er zurück. Nach einem letzten Blick auf die Frau, die einst seine Mutter gewesen war, wandte er sich ab und verließ das Gefängnis.
Novénia
Pierre träumte …
Er war wieder in Magiara, frei und auf wundersamem Wege zurückgekehrt. Er ging durch die hohen Räume mit ihren klaren Formen, genau so, wie er sie in Erinnerung hatte. Dann hörte er die Stimmen und das leise Lachen der anderen. Wie viel Zeit vergangen war, konnte er nicht sagen, aber hier hatte sich nichts verändert. Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, und als er sich umdrehte, stand er Felicius gegenüber. Mit einem erfreuten Lächeln sah ihn dieser an. (Das konnte nicht stimmen. Auf diese Weise sah er Arthenius und vielleicht Larenia an. Für ihn, Pierre, hatte er einen spöttischen Blick, ein zynisches Lächeln reserviert.)
„Erzähl mir mehr über deine Kriegspläne und deine Taktik zur Verteidigung Aridas!“
(Sonderbar. Der wirkliche Felicius hatte ihn nie nach seiner Strategie gefragt. Alles, was ihn interessierte, war, die Opfer und Zahl der Verwundeten möglichst gering zu halten.)
Er wollte sich umdrehen und weggehen, doch er konnte nicht. Eine unsichtbare Macht schien ihn festzuhalten und zum Antworten zu zwingen. Das konnte nicht die Realität sein! Inzwischen kämpfte Pierre mit aller Kraft darum, aufzuwachen. Doch er konnte es nicht. Er war in seinem eigenen Traum gefangen. Aber er durfte hier nicht bleiben. Aus irgendeinem Grund war es falsch, hier Informationen preiszugeben. Dabei wäre es so leicht gewesen. Langsam begann sein Widerstand zu ersterben. Aber er durfte nicht aufgeben! Mit einer letzten Kraftanstrengung gelang es ihm, aufzuwachen …
Er riss die Augen auf – und bereute es sofort wieder. Er befand sich im rötlichen Zwielicht seines Gefängnisses und über ihn gebeugt stand ein Brochonier in blutrotem Mantel. Stöhnend schloss er die Augen und ließ den Kopf hängen.
„Es geht nicht. Seine Gegenwehr ist zu stark“, leise und kalt erklang die Stimme des Druiden irgendwo vor ihm. Trotzdem erfüllten Pierre diese wenigen Worte mit Erleichterung. Er hatte den Brochoniern also keine Informationen geliefert. Seit Tagen versuchten sie, seine Gedanken und Erinnerungen zu manipulieren, um mehr über die Kandari und die Stärke Anorias zu erfahren. Bisher ohne Erfolg. Aber seine Kräfte schwanden, das wusste
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