Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
wenn du ihn brauchst. Probier nicht, alles allein zu tun“, er wartete ihr zustimmendes Nicken ab, bevor er weitersprach, „sobald du aufgebrochen bist, werden die Straßenkämpfe am anderen Ende der Stadt beginnen. Das sollte die Druiden und die Armee lange genug ablenken. Wenn ihr die Insel verlassen habt, gehst du sofort zum Palast, egal, was du vielleicht hören könntest.“
Wieder nickte sie. Sie waren übereingekommen, dass der Palast der beste Ort war, um den Kandari vor möglichen Suchtruppen zu verstecken. Niemand wäre verrückt genug, einen entflohenen Gefangenen hier zu suchen. Außerdem wollten sie keine Unschuldigen in ihre Pläne verwickeln.
„Das war es dann wohl. Mehr gibt es nicht zu sagen“, Norvans Stimme zitterte bei diesen Worten. Lange Zeit sahen sich die Geschwister an, als wollten sie jeden Zug im Gesicht des anderen, die Form der Augen, die Art zu lächeln, jede noch so kleine Einzelheit in ihr Gedächtnis einbrennen.
„Es ist ja nur ein Tag“, bemerkte Rowena mit einem verunglückten Lächeln, „wir sehen uns schon heute Abend wieder“, sie wollte nicht an die Alternative denken. Norvan schwieg und nach einem letzten, eindringlichen Blick wandte er sich ab.
„Versprich mir eins, Norvan“, er blieb stehen, drehte sich aber nicht noch einmal um, „egal was passiert, du musst weitermachen. Wir haben Hoffnung in den Herzen der Menschen geweckt. Lass nicht zu, dass sie alle enttäuscht werden.“
„Ich verspreche es“, sagte er mit leiser, fester Stimme, „Viel Glück, Rowena.“
Am späten Vormittag erreichte Rowena in Collyns Begleitung Andra’graco. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. Nur am großen Tor sprach sie einer der Wachen an, aber Collyn, in der Uniform eines Offiziers der Armee, schien ihnen Respekt einzuflößen, der noch durch die handschriftliche Nachricht Baruks verstärkt wurde. Der ebenfalls anwesende Druide beäugte sie zwar misstrauisch, doch für ihn stellte eine Frau keine ernst zu nehmende Gefahr dar. So betraten sie ungehindert den Innenhof.
Entsetzt sah sich Rowena um. Sie war nie zuvor hier gewesen. Zwar hatte sie die Erzählungen ihres Bruders gehört und sie hatte den Schock in seinen Augen gesehen, wann immer er aus dem Gefängnis zurückkehrte, doch kein noch so schrecklicher Bericht hätte sie auf die Realität vorbereiten können. Kaum fielen die Flügel des Haupttors hinter ihr ins Schloss, fühlte sie, wie sie die Mauern einschlossen. Das Gewicht der Tonnen von Stein schien sie zu erdrücken, ihr die Luft abzuschnüren. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie sich um. Es war kein Mensch zu sehen. Die Wächter waren in der Stadt wegen des Aufruhrs, den der Untergrund ausgelöst hatte. Und die Gefangenen verließen ihre Zellen nicht. Keine einzige Pflanze, nicht einmal ein einziger Grashalm wuchs in dem gepflasterten Innenhof. Selbst das Tageslicht war hier dunkler. Rowena konnte sich nicht vorstellen, dass ein Mensch hier längere Zeit überleben konnte.
Schweigend gingen sie auf das Haupthaus zu. Laut und unheimlich hallten ihre Schritte auf dem Pflaster wider. Beunruhigt blieb sie stehen und blickte hinter sich. Doch da war nichts, nichts außer Mauern und dem hohen, geschlossenen Tor. Bis zu diesem Augenblick hatte Rowena sich ihre Aufgabe einfach vorgestellt. Hinein und wieder heraus, mehr nicht. Doch jetzt begann sie zu zweifeln. Wie sollte ihr, ausgerechnet ihr, etwas gelingen, das als unmöglich galt? Aber jetzt war es zur Umkehr zu spät.
Collyn hielt die Tür auf und ließ sie vor sich eintreten. Einen Moment lang stand sie im Dunklen, ohne etwas von ihrer Umgebung zu erkennen. Aber sie spürte die feuchte, kalte Luft, die das Atmen erschwerte, und sie nahm den modrigen Geruch, den die Wände förmlich ausstrahlten, wahr. Dann flammte Feuer neben ihr auf und Collyn hielt eine Fackel in die Höhe.
„Komm“, so leise er auch sprach, riefen seine Worte doch ein schallendes Echo hervor, „hier entlang.“
Rowena folgte ihm eine nahezu endlose Treppe hinab. Ab und zu sahen sie ein paar Wächter durch die Gänge gehen, aber niemand schenkte ihnen auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Doch gerade das machte ihr Angst. Es war zu einfach.
Nach einer Weile gab sie es auf, die Stufen zu zählen. Gleichzeitig war sie sich nicht sicher, ob sie das Ende der Treppe wirklich erreichen wollte. Sie fürchtete sich vor dem, was geschehen würde. Es war so einfach gewesen, darüber zu sprechen. Hätte sie es jetzt noch gekonnt, sie wäre
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