Das Vermächtnis der Montignacs
Morgen war er um acht Uhr von dieser Wohnung aus geradewegs zur Galerie gegangen und dort gewesen, als die Polizei sich später am Tag bei ihm meldete.
Owen war mit ihnen gefahren und hatte die Leiche als Raymond Davis identifiziert, den jungen Gartenbaumeister, der mit seiner Cousine verlobt war. Wie die Polizei annahm, hatte Raymond abends bei Owen vorbeigeschaut, war auf den betrunkenen Bentley gestoÃen, und es war zu einem Kampf gekommen, der in Raymonds gewaltsamem Tod endete. Bentley beteuere seine Unschuld, hieà es, und behaupte, sich aufgrund seines Alkoholkonsums an nichts erinnern zu können. Demzufolge habe er kein sehr überzeugendes Alibi, zumal es kein Unfall gewesen sei, denn Raymonds Schädel sei auf brutalste Weise mit einem Kerzenständer eingeschlagen worden.
Stella war danach zu Bett gegangen, hatte jedoch, wie Margaret bemerkt hatte, nur wenig geweint. Im Bett lag sie einfach da und schien von groÃer Trauer befallen. Auf Raymonds Beerdigung, wenige Tage später, hatte sie es geschafft, Haltung zu bewahren, war jedoch gleich nach dem Begräbnis nach Leyville zurückgekehrt. Sie hatte nicht einmal an der Trauerfeier teilgenommen, sondern erklärt, es sei eine Formalität, die ihr verhasst sei.
»So«, sagte Annie, die Stellas Frühstück auf einem Tablett zusammengestellt hatte. »Ich habe noch ein paar Eier mehr aufgeschlagen. Sie muss wieder zu Kräften kommen. Warten Sie, ich hole noch schnell den Tee.«
»Danke, Annie.« Margaret stand auf. »Ich glaube, ich werde sie ermuntern, nach dem Frühstück aufzustehen.«
»So istâs richtig. Zu faulenzen hat noch nie jemandem gutgetan.«
»Nein.«
»Wissen Sie vielleicht«, begann Annie nach einer Anstandspause, »ob Miss Stella künftig in Leyville bleibt?«
Margaret runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich. Warum fragen Sie? Wohin sollte sie denn sonst gehen?«
»Ich dachte â da sie jetzt ja nicht heiratet, wird sie hier doch nicht alles aufgeben und nach London zu Mr Owen ziehen, oder?«
»London dürfte der letzte Ort sein, an dem sie zurzeit sein möchte, glauben Sie nicht? Nach allem, was dort vorgefallen ist.«
»Ich habe wegen meiner Situation nachgefragt«, erklärte Annie. »Denn wenn es hier keine Arbeit â«
»Oh Annie, bitte«, sagte Margaret entnervt und griff nach dem Tablett. Annie stellte die Teekanne darauf. »Dieses Gespräch müssen wir doch nicht jetzt führen, oder? Im Moment kann ich nur an Stella denken. Niemand kann von mir erwarten, dass ich mir darüber hinausgehende Sorgen um die Arbeit hier im Haus mache. Du wirst deinen Lohn erhalten, falls es das ist, was dich beschäftigt.«
»Darum geht es nicht«, entgegnete Annie aufgebracht. »Warum müssen Sie gleich so kratzbürstig werden?«
»Ich bin nicht kratzbürstig«, verteidigte Margaret sich erschöpft und seufzte. »Aber falls Sie sich Sorgen machen, kann ich den richtigen Moment abwarten, mit Stella sprechen und nachfragen, wie ihre Pläne aussehen.«
»Wenn es nicht zu viel Mühe macht«, entgegnete Annie spitz.
»Nein.« Margaret wandte sich zum Gehen. »Ich rede so bald wie möglich mit ihr.«
Sie trug das Tablett die Treppe hinauf. Auf dem Weg drohte die düstere Atmosphäre des Hauses sie wieder einmal zu überwältigen, doch Annies Sorgen konnte sie nachvollziehen. In diesem Haus waren zu viele Menschen gestorben, und als die Möglichkeit bestand, dass es eine Hochzeit und Kinder geben und das Glück erneut einziehen würde, war sie sogleich wieder erloschen. Margaret umklammerte das Tablett so fest, dass sie den Schmerz in den Händen spürte.
3
Montignac nahm seine Geldbörse und den Schlüsselbund aus den Taschen und legte beides auf ein Tablett. Dann trat er an die Wand, breitete die Arme aus und wurde von einem Aufseher nach verbotenen Gegenständen abgetastet. Nach dieser Inspektion folgte er den anderen Besuchern durch einen langen kalten Flur und erschauderte angesichts der Umgebung. Von allen Orten der Welt, die er nie hatte aufsuchen wollen, stand ein Gefängnis ganz oben auf der Liste.
Er musterte die anderen Besucher, fühlte sich ihnen überlegen und kam sich unter ihnen fehl am Platz vor. Die meisten von ihnen gehörten einer niederen Klasse an und waren billig gekleidet. Die Frauen hatten strähniges Haar, die Männer
Weitere Kostenlose Bücher