Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
im Stich lassen? Nachdem ich all die Jahre für dich da war?«
Winston McCauley dachte einen Augenblick lang nach.
Dann schüttelte er den Kopf.
»Nein«, sagte er.
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16
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Dirleton
14. März 1826
»Es wird bereits dunkel.«
Mary hatte am Fenster Posten bezogen. Vorsichtig, sodass sie von draußen nicht gesehen werden konnte, spähte sie durch das fleckige Glas hinab auf die Hauptstraße, die um diese Zeit wie ausgestorben wirkte; nur hin und wieder kam ein Fuhrwerk oder ein Fischer auf dem Weg zur Taverne vorbei.
»Noch immer keine Spur von ihm«, stellte Mary fest. »Womöglich hat er das Dorf längst wieder verlassen.«
»Nein«, widersprach Quentin, der ruhelos in der Dachkammer auf und ab ging, die ihnen als Bleibe diente. Das alte Mütterchen, das sie ihnen vermietet hatte, hatte sich argwöhnisch erkundigt, ob sie denn auch ordentlich verheiratet wären. »Er ist noch immer da.«
»Aber was macht er den ganzen Tag auf seinem Zimmer?«
Quentin schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Womöglich wartet er auf irgendetwas.«
»Oder auf jemanden«, erwiderte sie.
Das Old Harbor Inn war der einzige Gasthof der Ortschaft, der Unterkünfte für die Nacht anbot: ein breites, aus Fachwerk errichtetes Gebäude, dessen oberes Stockwerk die Fremdenzimmer beherbergte. Bis hierher war Quentin Milton Chamberlain gefolgt, und hierher waren auch Sir Walter und Mary gekommen. Während Sir Walter ein Stück außerhalb der Ortschaft in einer Kutschenstation untergekommen war, hatte sich Quentin dem Inn gegenüber bei einer alten Witwe eingemietet. Das Zimmer war nur spärlich möbliert und bot keinerlei Annehmlichkeit, aber seine Lage war geradezu ideal für Quentins Zwecke.
»Hättest du das gedacht?«, fragte Mary.
Er blieb stehen. »Was meinst du?«
»Das alles hier«, erwiderte sie, während sie weiter hinaus auf die Straße starrte. »Dass dein Onkel noch lebt … dass wir hier sein würden … dass wir tun würden, was wir gerade tun.«
»Nein«, musste Quentin lächelnd zugeben. »Das hätte ich nicht gedacht. Das Leben steckt voller Überraschungen, nicht wahr?«
Sie nickte und schürzte die Lippen. »Ich habe nachgedacht«, verriet sie dann.
»Worüber?«
»Über mich. Über uns beide. Über das, was geschehen ist.«
Quentin verkrampfte sich sichtlich. »Und?«, fragte er.
»Ich muss dich um Verzeihung bitten.«
»Wofür?«
»Für manches, das ich gesagt habe … für die Zurückweisung und die Ablehnung, die ich dir angedeihen ließ …«
»Aber nein!«, widersprach er. »Du warst verletzt und hast getrauert, das kann ich gut verstehen.«
»Dennoch.« Sie schüttelte den Kopf. »Anstatt nach vorn zu blicken, habe ich mich im Selbstmitleid gesuhlt. Und ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin.«
»Das geht mir ebenso«, versicherte er, ohne zu fragen, was für Dinge das waren oder was genau sie damit meinte. »Ich dachte, ich könnte alles regeln und kontrollieren, aber das war ein Irrtum. Bisweilen ist man machtlos, man muss die Dinge einfach geschehen lassen.«
»Das ist wahr.«
Sie nickte und spähte noch einmal hinab auf die Straße, die inzwischen in Dunkelheit versunken war. Regen hatte eingesetzt, und nur ein einsamer Betrunkener torkelte zwischen den Häusern hin und her. Von Chamberlain war nach wie vor nichts zu sehen. Hinter dem Fenster des Zimmers, das sich der Anwalt genommen hatte, war inzwischen allerdings flackernder Lichtschein zu erkennen.
»Du hattest recht«, stellte Mary erleichtert fest. »Er ist noch da. Ich denke nicht, dass er das Inn heute Abend noch verlässt.«
»Das denke ich auch nicht.« Sie wandte sich vom Fenster ab und sandte Quentin ein Lächeln zu, wie er es lange nicht mehr bei ihr gesehen hatte, nicht gezwungen oder halbherzig, sondern gelöst und voller Zuneigung. »Halt mich«, bat sie leise.
Zögernd trat er auf sie zu, als wäre sie ein scheues Tier, das die Flucht ergriff, sobald er sich regte. Aber sie machte keine Anstalten, sich ihm zu entziehen, und als er seine Arme um sie legte, widersetzte sie sich nicht, sondern schmiegte sich an ihn, weich und warm und voller Leben.
»Mary, was …?«, setzte er an, wollte erfahren, was diesen Wandel bewirkt hatte, doch statt zu antworten, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn sanft aber bestimmt auf den Mund. Nicht, um sich zu entschuldigen oder ihm ihre Zuneigung zu versichern.
Sondern weil sie es wollte .
Quentin erwiderte den Kuss, und diesmal wehrte sie sich
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