Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
ich fürchte, dass ich diesem Abgrund niemals wieder entkommen werde.«
»Ich weiß«, drang es mit brüchiger Stimme zurück.
Sie blickte auf, nur um festzustellen, dass auch Sir Walter Tränen in den Augen hatte, die ihm im nächsten Moment ungehemmt über die Wangen rannen, und der sonst so gefasste Herr von Abbotsford schien sich ihrer nicht zu schämen.
»Meine armen Kinder«, sagte er leise. »Ich weiß, was ihr erlebt, welche Qualen ihr durchlitten habt.«
»Du … weißt es?«
Sir Walter nickte. »Es ist fast dreißig Jahre her, und doch habe ich diesen Tag in Erinnerung, als wäre es gestern gewesen.«
»Du?«, fragte Mary ungläubig. »Aber ich dachte …«
»Es wäre unser erstes Kind gewesen«, erwiderte Sir Walter leise. »Es kam zur Welt, doch schon nach einem einzigen Tag war sein kleines Leben zu Ende.«
»Das … das wusste ich nicht.«
»Lady Charlotte spricht nicht gerne darüber.«
»Das kann ich gut verstehen«, versicherte Mary.
»Auch ich habe diese Dinge tief in meinem Herzen verschlossen«, gestand Sir Walter. »Aber an manchen Tagen kann ich nicht anders, als mich zu fragen, was aus unserem Kind geworden wäre.«
»Ich weiß.« Mary nickte traurig. »Und wie habt ihr …? Ich meine …«
Sir Walter lächelte schwach. »Ein Jahr später kam Sophia zur Welt«, erwiderte er und breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Arme aus. »Frage mich nicht nach den Gründen dafür, mein Kind, aber das Leben ist sehr viel stärker, als …«
Er unterbrach sich, als zaghaft an die Tür geklopft wurde.
Rasch blinzelte der Herr von Abbotsford die Tränen weg und straffte sich hinter seinem Schreibtisch.
»Ja?«, fragte er dann.
Die Tür wurde geöffnet, Mortimer erschien.
»Verzeihen Sie die Störung, Sire«, sagte der Verwalter, »aber soeben ist ein Bote aus Edinburgh eingetroffen, der eine Nachricht für Sie abgegeben hat.«
»Bitte«, sagte Sir Walter nur und streckte die Hand nach dem Brief aus, den Mortimer ihm pflichtschuldig überreichte. Rasch entfaltete Sir Walter das Papier und überflog die Zeilen.
»Eine Nachricht von Quentin«, erstattete er Mary dann Bericht. »Chamberlain hat die Stadt verlassen, genau wie wir es erwartet haben. Quentin ist ihm auf den Fersen.«
»Dann wollen wir ebenfalls aufbrechen«, verkündete Mary entschlossen, aber mit noch immer bebender Stimme.
»Bist du sicher?«, fragte Sir Walter besorgt.
Sie blickte ihm fest in die Augen, und zum ersten Mal nach sehr langer Zeit hatte sie das Gefühl, wieder einen freien Atemzug tun zu können.
»Ja, Onkel«, antwortete sie.
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15
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Geheimer Treffpunkt
11. März 1826
»Und Sie sind sicher, dass dies der richtige Ort ist?«
Diarmid of Scrymgour bemühte sich erst gar nicht, seine Zweifel zu verbergen. Aus seinen Blicken, die er über Boden und Wände der kleinen, sich in den Überhang eines mächtigen Felsens duckenden Hütte schweifen ließ, sprach unverhohlene Missbilligung.
»Durchaus«, beteuerte Brighid. »Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie aus Ihren Worten etwas mehr Zuversicht sprechen ließen, Scrymgour.«
»Schon gut.« Der Anführer der Runenbruderschaft war noch immer nicht überzeugt. Einerseits schalt er sich einen Narren dafür, dass er sich von ihr an diesen entlegenen Ort hatte führen lassen, der ebenso gut auch eine Falle sein konnte; andererseits hätte er es nicht über sich gebracht, sie alleine zu dem vereinbarten Treffpunkt gehen zu lassen. Schließlich ergab sich nun endlich die Gelegenheit herauszufinden, wer der geheimnisvolle Informant war, von dem sie immer wieder sprach.
»Sie wirken angespannt«, stellte sie fest.
»Durchaus nicht, Hoheit«, widersprach er. »Mir ist nur nicht wohl dabei, Außenstehenden zu vertrauen.«
»Tragen Sie deshalb noch immer Ihre Maske?«
»Mit Verlaub, Hoheit, noch haben Sie nichts unternommen, um das Vertrauen, das meine Mitbrüder und ich in Sie setzen, zu rechtfertigen. Bislang haben wir nur viele Worte gehört. Schöne Worte, das gestehe ich gerne zu, aber eben nur Worte.«
»Seien Sie ganz beruhigt«, beschied sie ihm mit jener Überlegenheit, die sie schon zur Schau getragen hatte, als sie noch seine Gefangene gewesen war. »Schon bald werden Sie den Beweis in Ihren Händen halten.«
»Das hoffe ich sehr. Meine Mitbrüder werden allmählich unruhig.«
»Tatsächlich? Oder sind vielmehr Sie es, der allmählich unruhig wird?« Ihre blauen Augen taxierten ihn prüfend. »Sie trauen mir wirklich nicht,
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