Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
war.
Ihr Alter war noch immer schwer zu schätzen. Das anmutige Gesicht mit den hohen Wangenknochen war von jugendlicher Glätte, der Blick ihrer tiefblauen Augen jedoch verriet Erfahrung und Reife. Ihr pechschwarzes Haar, das nun nicht mehr in schmutzigen, salzverkrusteten Strähnen hing, sondern seidig glänzte, hatte Mary zu einem kunstvollen Zopf geflochten und hochgesteckt. Das gelbe, an der Taille eng geschnittene und über die Hüften ausladende Kleid vervollständigte den Eindruck, dass kein ungebetener Gast am Tisch saß, sondern eine wirkliche Dame.
»So, da sind Sie nun also«, knurrte McCabe dennoch, während er lustlos in dem Bohneneintopf stocherte, den der Smutje ihnen serviert hatte. Die Schmach, dass ihn jemand überlistet und sich an Bord seines Schiffes geschlichen hatte, schien immer noch an ihm zu nagen. »Wie ist Ihr Name?«, wollte er von der Fremden wissen, die zusammen mit Mary am anderen Ende des Tisches saß. »Woher kommen Sie?«
»Ich fürchte, da gibt es ein Problem, Sir«, erwiderte Mary an ihrer Stelle. »Unser Gast spricht nur Französisch, und dazu offenbar nur einige Worte. Zudem scheint sie sich an kaum etwas erinnern zu können.«
»Was?« McCabes lückenhaftes Gebiss kaute geräuschvoll auf seinen Bohnen. »Das wird ja immer schöner! Wie ist sie an Bord gekommen? Wie konnte sie an den Wachen vorbeigelangen? Und überhaupt, was will sie hier?«
Mary, die hinreichend Französisch sprach, übersetzte die Fragen des Kapitäns, ein Kopfschütteln war jedoch die einzige Antwort, die sie erhielt.
»Wie ich schon sagte«, erläuterte Mary, »sie kann sich an nichts erinnern und weiß nicht, wie sie an Bord gelangt ist. Immerhin kennt sie ihren Namen – er lautet Brighid.«
»Brighid?« McCabe sah die Fremde fragend an, worauf diese zaghaft nickte. Die Furcht in ihren blauen Augen war unübersehbar, aber der alte Seebär schien dagegen gefeit. »Nun, das ist immerhin etwas. Dann können wir wenigstens einen Namen angeben, wenn wir sie in Neufundland den Behörden übergeben.«
»Sie wollen was tun?«, fragte Mary. Quentin konnte sehen, wie Brighid ihr einen verunsicherten Blick zuwarf.
»Erwarten Sie etwa, dass ich eine blinde Passagierin mitnehme? Die ganze Passage?«, fragte McCabe dagegen. »Sie wird das Schiff verlassen, wenn wir in Saint John’s anlegen, um weitere Ladung an Bord zu nehmen. Die dortige Hafenkommandantur wird sich um alles Weitere kümmern.«
»Aber … das können Sie nicht machen!« Zornesröte schoss in Marys blasse Züge; so hatte Quentin sie lange nicht mehr erlebt. »Was soll sie denn am Ende der Welt anfangen, so ganz allein, wie sie ist?«
»Die Gesetze der Seefahrt sind hart, Mrs. Hay, und das ist gut und notwendig. Unsere blinde Passagierin hätte sich eben vorher überlegen sollen, was sie tut.«
»Ihr Name ist Brighid«, brachte Mary energisch in Erinnerung. »Und wie ich Ihnen bereits sagte, kann sie sich an nichts erinnern. Es ist also ebenso gut möglich, dass sie an Bord Ihres Schiffes verschleppt wurde.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Gar nichts«, versicherte Mary. »Aber ehe Brighids Schuld nicht zweifelsfrei bewiesen ist, können und dürfen Sie sie nicht verurteilen. Oder sehen Sie das anders?«
»Pah«, machte McCabe und stopfte sich einen weiteren Löffel Bohnen in den Mund. Da ein Teil davon an seinem grauen, verfilzten Bart hängenblieb, war es kein sehr erbaulicher Anblick.
»Ich muss meiner Gattin recht geben, Sir«, schaltete sich nun auch Quentin in das Gespräch ein. »Bei allem Verständnis für Ihren Zorn – gelten in diesem Fall nicht andere Regeln? Immerhin haben wir es mit einer Frau zu tun.«
»Na und?«, beschied McCabe ihm barsch und angelte sich eine Scheibe Schiffszwieback aus dem Brotkorb, den er zerbrach und über seinen Eintopf verteilte. Dass sich eine fette weiße Made darauf tummelte, nahm er gleichmütig zur Kenntnis. »Ob Mann oder Frau, das macht keinen Unterschied«, fügte er mürrisch hinzu. »Es sei denn, jemand wäre bereit, für die Passage der Dame aufzukommen.«
Quentin biss sich auf die Lippen. Er spürte Marys Blick und vermied es, in ihre Richtung zu sehen. Hätte er über die entsprechenden Mittel verfügt, hätte er keinen Augenblick gezögert, der Fremden zu helfen – aber er verfügte nicht über sie.
Das Geld, das er in den letzten Wochen bei der Evening Post verdient hatte, hatte gerade ausgereicht, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Passage nach Europa hatte
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