Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Lautstärke nach stritten die beiden miteinander, und in einer von ihnen glaubte Serena die Stimme der Duchessa zu erkennen.
Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Das Letzte, was sie wollte, war, der Herrschaft in einer für sie beschämenden Situation zu begegnen. Verschreckt begann Serena sich wieder in ihre Kammer zurückzuziehen, als sie die andere Stimme zaudern ließ, die einem Mann zu gehören schien, jedoch leise war und säuselnd – der Herzog?
Serena hatte ihren geheimnisvollen Dienstherrn bislang weder zu sehen bekommen, noch hatte sie ihn jemals sprechen gehört. Die Vorstellung, dass er es war, der sich mit der Herzogin stritt, war seltsam befremdlich. Noch mehr entsetzte Serena jedoch die Heftigkeit der Auseinandersetzung, und obwohl ihr klar war, dass sie damit nur noch mehr riskierte, konnte sie nicht anders, als zu lauschen.
Was genau gesprochen wurde, verstand sie nicht, zumal die beiden französisch zu sprechen schienen, was an sich schon seltsam war; Lautstärke und Tonfall verrieten jedoch genug. Nie zuvor hatte Serena Leute vornehmer Herkunft sich derart anherrschen hören, und obwohl sie nicht wusste, worum es ging, verschaffte es ihr eine gewisse Genugtuung.
Irgendwann trat Stille ein.
Dann waren zornig davonstürzende Schritte zu hören, schließlich ein Schluchzen, und jemand brach in Tränen aus. Beklommen erkannte Serena, dass es niemand anders als die sonst so beherrschte, ja beinahe hartherzig wirkende Duchessa war.
Serena fühlte sich plötzlich schlecht, weil sie gelauscht hatte, und setzte rasch ihren Weg fort, den Gang hinab zu Ginesepinas Kammer.
Leise klopfte sie. Dann, als niemand öffnete, noch einmal etwas lauter.
Erneut keine Reaktion.
Serena wagte nicht, noch lauter zu klopfen. Sie wollte nicht die Aufmerksamkeit der Herrschaft wecken, andererseits war ihr Anliegen zu wichtig, als dass es Aufschub geduldet hätte.
Kurzerhand drückte Serena die eiserne Klinke.
Die Tür war unverschlossen und schwang mit leisem Knarren auf.
»Signora Ginesepina?«
Serenas Herzschlag beschleunigte sich, als sie zögernd in das Halbdunkel trat, das jenseits der Tür herrschte. Ginesepinas Kammer war nur wenig größer als ihre eigene und ähnlich möbliert: eine Schlafstatt, ein Sitzschemel und ein kleiner Tisch mit einer Waschschüssel darauf.
Jedoch keine Spur von ihrer Bewohnerin.
Serena hatte erwartet, ihre gestrenge Vorgesetzte schlafend vorzufinden, doch das Bett war leer. Zwar schien sich Ginesepina bereits zur Ruhe begeben zu haben, doch irgendetwas – womöglich ein dringendes Bedürfnis – hatte sie wieder aufgescheucht. Vermutlich würde sie gleich zurückkehren.
Serena beschloss zu warten.
Den Umhang eng um die Schultern gezogen, setzte sie sich auf den Schemel und wartete darauf, dass die Köchin zurückkehrte.
Wartete.
Und wartete.
Als sie irgendwann ein Geräusch hörte, schreckte sie auf – nur um festzustellen, dass sie eingeschlafen sein musste. Dem Mondlicht nach zu urteilen, das nun in sehr viel schrägerem Winkel einfiel als zuvor, musste mehr als eine Stunde vergangen sein. Ginesepina jedoch war noch immer nicht zurückgekehrt.
Serena zögerte einen Moment, überlegte, was sie tun sollte.
Dann erhob sie sich ratlos und kehrte unverrichteter Dinge in ihre eigene Kammer zurück.
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13
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Atlantischer Ozean
30. Januar 1826
Als der neue Tag anbrach, hatte sich die Stimmung an Bord wieder ein wenig beruhigt. Die Mannschaften waren auf ihre Posten zurückgekehrt, und Kapitän McCabe hatte sich mit dem Gedanken abgefunden, einen blinden Passagier an Bord zu haben – auch wenn die Blicke, die er der Frau zuwarf, noch immer voller Groll waren.
Da Mary die einzige andere Frau an Bord war, hatte Quentin vorgeschlagen, dass sie sich um die Fremde kümmern sollte, und Mary hatte diese Aufgabe gerne übernommen. Nicht nur, dass sie die blinde Passagierin in ihr Quartier mitgenommen und ihr Gelegenheit gegeben hatte, sich zu reinigen; sie hatte ihr auch eines ihrer Kleider gegeben, sodass die Frau nicht mehr zerschlissene Männersachen zu tragen brauchte. Und so hatte die Fremde, die sich zur Mittagsstunde in der Messe einfand, wo die Passagiere zusammen mit Kapitän McCabe und seinen Offizieren zu speisen pflegten, nur noch wenig mit jener verdreckten Person gemein, die man vergangene Nacht im Bugraum aufgefunden hatte. Allen fiel nun auf, was Quentin schon im ersten Moment bemerkt hatte: dass die blinde Passagierin ein Ausbund an Schönheit
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