Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
nicht mehr in ihrer Kammer angetroffen hatte, grenzte an ein Wunder.
Den Grund für ihre Entlassung kannte Serena nicht.
Hatte Ginesepinas überstürzter Weggang etwas mit dem Streit zu tun, dessen unfreiwillige Zeugin Serena geworden war? Hing es mit der zerbrochenen Flasche Wein zusammen? Oder gar – und dieser Gedanke erschreckte sie am meisten – mit dem, was sie im Keller aufgefunden hatte?
Anfangs stellte Serena sich diese Fragen noch, das Interesse an den Antworten jedoch ließ mit jedem Tag nach. Denn für Serena war es, als hätte ihr Leben jetzt erst begonnen.
Keine Schikanen mehr!
Keine ungerechten Rügen!
Keine niederen Arbeiten, die sie verrichten musste, weil jemand ihr das Aussehen neidete!
Stattdessen hatte sie weitgehend freie Hand, den Haushalt so zu führen, wie sie es für richtig hielt, solange sie ihren Pflichten nachkam. Anfangs hatte Duchess Charlotte wohl beabsichtigt, eine neue Köchin einzustellen, die Ginesepinas strenges Regiment in der Küche übernehmen sollte. Als sie jedoch erkannte, dass Serena auch allein dazu in der Lage war, ließ sie von diesem Vorhaben ab und beförderte sie stattdessen zur Haushälterin des Palazzo.
Von einem Tag zum anderen war Serena damit in der Hierarchie des Hausgesindes aufgestiegen. Selbst der Kutscher und der Stallbursche begegneten ihr jetzt mit Respekt, von der besseren Entlohnung ganz abgesehen. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, genau dort zu sein, wohin sie gehörte – auch wenn es bedeutete, dass sie ihre Angst überwinden und wieder in den Keller gehen musste.
Die ersten Male hatte sie es vermieden, in den Schacht zu blicken, bis die Erinnerung schließlich verblasste und sie sich fragte, ob all das überhaupt tatsächlich geschehen war. Und als sie sich endlich dazu überwand, wieder einen Blick in den Schacht zu werfen, war sie kaum überrascht, dort unten keinen Leichnam vorzufinden. Womöglich, sagte sie sich, hatte sie sich das alles nur eingebildet, eine Folge der schlimmen Erinnerungen, die sie immer dann überkommen hatten, wenn sie den Keller betrat. Doch auch diese gehörten inzwischen der Vergangenheit an; nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Serena so geborgen gefühlt, hatte sie größere Wertschätzung erfahren, sodass sie nur zu gerne bereit war zu vergessen – und keine Fragen mehr zu stellen.
Was ging es sie an, welchen Umgang der Herr des Hauses pflegte, den sie noch nie zu Gesicht bekommen hatte? Was scherte es sie, welche politischen Ansichten er hegte? Zumindest in dieser Hinsicht hatte Ginesepina wohl recht gehabt: Man musste die Politik denen überlassen, die etwas davon verstanden, jeder musste tun, was er am besten konnte.
Mit derlei Weisheiten lenkte Serena sich ab; sie sah weg, wenn nächtliche Besucher dem Herzog und seiner Tochter die Aufwartung machten, gab sich gleichgültig, wenn nachts erneut laute Stimmen durch das Haus hallten und die Duchess anderntags traurig und niedergeschlagen wirkte; leugnete, dass es ein dunkles Geheimnis geben musste, das den Palazzo in Oltrarno umgab, und sagte sich, dass es ohnehin nicht in ihrer Macht stand, etwas dagegen zu unternehmen. Alles, was sie tun konnte, war, das bisschen Glück auszukosten, das das Schicksal ihr nun endlich zugeteilt hatte, und es so lange wie möglich festzuhalten.
Die Duchess schien ihre Loyalität zu belohnen.
Nicht nur, dass sie sich wohlwollend über Serenas Arbeitsweise und Kochkünste äußerte, sie schien ihr auch immer mehr zu vertrauen, denn sie überprüfte die Haushaltsführung kaum noch und ließ sich nur selten in der Küche sehen. Oder lag es daran, dass sich die Tochter des Herzogs in letzter Zeit immer mehr zurückzog? Es gab Tage, an denen sie in ihren Gemächern blieb, und andere, an denen sie den Palazzo in Begleitung einiger Diener verließ, sodass Serena allein im Haus war – allein mit ihrem unbekannten, geheimnisvollen Dienstherrn, dem sie noch nie begegnet war.
Und an einem dieser Tage geschah es.
Serena achtete das Gebot, nicht in den ersten Stock zu gehen, wie sie jede andere Weisung der Duchess peinlich genau befolgte. Sie hatte sich daran gewöhnt, wegzusehen und keine Fragen zu stellen, und nichts wäre ihr abwegiger erschienen, als ihr Schicksal herauszufordern und ihr persönliches, eben erst errungenes Glück wieder zu gefährden.
Bis sie die Stimme vernahm.
Es war am frühen Vormittag. Serena war damit beschäftigt, einen Kessel aufzusetzen, um für den Mittag die Gemüsesuppe
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