Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
wieder von Bord, und schließlich durften auch die Passagiere das Schiff verlassen. Pine ließ ihr Gepäck an Land bringen und auf einen Karren verladen, dann verabschiedeten sie sich und gingen zum Gebäude der Hafenkommandantur, um die Einreiseformalitäten zu klären.
Der Weg entlang an den Kais weckte Erinnerungen.
Genau hier war es gewesen, wo Quentins und Marys großes Abenteuer seinen Anfang genommen hatte. Hier hatten sie gestanden, als sie sich von Sir Walter verabschiedet hatten, von hier aus waren sie an Bord der Fortune gegangen, jenes Schiffes, das sie fort von ihrer Heimat und in die Neue Welt gebracht hatte. Es war das letzte Mal gewesen, dass sie ihren Fuß auf europäisches Festland gesetzt hatten. Jung waren sie damals gewesen, voller Tatendrang und Optimismus …
Nur vier Jahre lag das zurück. Quentin jedoch kam es vor, als wäre sehr viel mehr Zeit vergangen.
Zum einen wegen der vielen Dinge, die seither geschehen waren: die Erfahrungen, die sie hatten machen, die Enttäuschungen, die sie hatten erleben müssen; zum anderen auch wegen des Todes von Sir Walter. Mit ihm zusammen schien auch ein Teil der Vergangenheit gestorben zu sein. Und schließlich, weil auf den ersten Blick ersichtlich war, dass sich in den vergangenen vier Jahren in der alten Heimat viel geändert hatte.
Als Mary und Quentin Schottland verlassen hatten, war der Hafen von Leith ein Ort geschäftigen Treibens gewesen. Unzählige Segelschiffe hatten sich an den Piers gedrängt, deren Mastbäume und Wanten einen undurchschaubaren Wald gebildet hatten, und Tausende von Arbeitern waren damit beschäftigt gewesen, Ladungen zu löschen oder Schiffe neu zu beladen. Die Buden und Tavernen, die sich entlang der Hafenzeile reihten, waren zu jeder Tageszeit überfüllt gewesen, die Werkstätten der Schiffszimmerer und Segelmacher, der Wagner und Böttcher hatten Hochkonjunktur gehabt. Kaufleute und Handwerker, Kapitäne und Matrosen, Bürger und Bettler: Sie alle hatten sich an den Piers ein Stelldichein gegeben, und inmitten all des Durcheinanders waren die Pferdefuhrwerke und Ochsenkarren verkehrt, die Hafenarbeiter und die Gepäckträger, dazu die Taschendiebe und fliegenden Händler, die – jeder auf seine Weise – versucht hatten, ihr Glück mit dem Geld argloser Reisender zu machen.
Von diesem wirren Treiben war kaum etwas geblieben.
Abgesehen von zwei weiteren Schiffen, die schon seit geraumer Zeit in Leith vor Anker zu liegen schienen, war die Fairy Fay der einzige Segler, der im Hafen festgemacht hatte, und anstelle reger Betriebsamkeit herrschte an den Kais trostlose Leere. Eine Kolonne grauhäutiger, gebückter Gestalten rückte an, um das Schiff zu entladen, und am Pier standen auch einige Händler und Träger, die den Reisenden ihre Waren und Dienste feilboten, doch es war noch nicht einmal ein sanfter Nachhall des pulsierenden Durcheinanders, das hier einst geherrscht hatte. Dafür lungerten abgerissene Gestalten in dunklen Nischen und beäugten die Reisenden mit gierigen Blicken.
Die meisten Tavernen und Werkstätten hatten geschlossen, hier und dort waren die Fenster und Türen mit Brettern verbarrikadiert worden, was trostlos und abweisend wirkte; nur der einsame Klang einer verstimmten Fiedel drang von irgendwo, zu der eine brüchige Stimme einen Shanty sang. Der Gestank von Fäulnis und Seetang tränkte die Luft am Hafen und brachte einmal mehr zu Bewusstsein, wie sehr sich alles geändert hatte.
»Was ist hier nur los?«, fragte Mary. »Die Piers wirken wie ausgestorben.«
»Die Krise«, meinte McCauley überzeugt. »Viele Händler in Edinburgh mussten in den vergangenen Wochen bereits Konkurs anmelden. Andere sind zumindest nicht mehr in der Lage, eintreffende Waren zu bezahlen.«
»Ich habe darüber gelesen«, stimmte Quentin zu. »Die Zahlungsunfähigkeit einiger englischer Banken im vergangenen Jahr hat nicht nur dazu geführt, dass ersparte Vermögen verloren gingen, sondern auch dazu, dass kaum noch Darlehen ausgegeben werden. Die schottischen Kaufleute trifft dies besonders hart, da sie traditionell über weniger Rücklagen verfügen als ihre englische Konkurrenz.«
»So ist es.« McCauley nickte. »Und wenn sie keine Waren mehr erwerben, kommt der Schiffsverkehr zum Erliegen. Das trifft dann auch all jene Geschäfte, die üblicherweise von ihm profitieren, von den Reedern bis hinab zum Hafenarbeiter.«
»Das ist ungerecht«, wandte Mary ein. »Nur weil einige Banken Misswirtschaft getrieben
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