Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
unumwunden zu, »und auch sonst keiner der hier Versammelten. Aber ich habe Nachricht von Dingen erhalten, die alles ändern könnten. Bevor ich sie euch jedoch offenbare, muss ich wissen, ob ich noch immer euer Vertrauen habe. Malcolm of Ruthven ernannte mich einst zu seinem Stellvertreter, weil er an meine Fähigkeiten glaubte. Sollte euer Argwohn gegen mich jedoch überwiegen, so …«
»Was ist dein Plan?«, fragte ein anderer.
»Ihr vertraut mir also? Runen und Blut?«
»Runen und Blut«, drang es zurück, längst nicht mit derselben Überzeugung wie in den alten Tagen, nun jedoch zumindest mit etwas Wissbegier.
»So wisst, dass ich ein anonymes Schreiben erhalten habe. Darin steht, dass in wenigen Tagen ein Schiff aus der Neuen Welt in Leith eintreffen wird. An Bord wird jemand sein, der uns dabei helfen kann, dass unsere Vision von einem freien Schottland unter eigener Krone endlich wahr wird!«
Die Vermummten tauschten verblüffte Blicke.
»Wer?«, wollte einer schließlich wissen.
Als Antwort zog Scrymgour einen weiteren Gegenstand unter seiner Robe hervor. Es war ein gegerbtes Stück Leder, das er vor den Augen seiner Anhänger entfaltete.
Ein Wappen war darin eingebrannt, das einen aufrecht stehenden Löwen mit einer Krone darüber zeigte.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Reihen der Vermummten, denn jedes Mitglied der Bruderschaft kannte dieses Zeichen.
Es war das Wappen des Hauses Stewart.
Der letzten Könige von Schottland.
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17
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Florenz
Oktober 1784
Langsam stieg Serena die Treppe hinauf.
Stufe für Stufe.
Was, so fragte sie sich bang, würde sie oben erwarten? Würde sie ihren geheimnisvollen Dienstherrn nun endlich zu sehen bekommen? Den Herzog von Albany?
»Serena? Bist du das? Bitte komm zu mir …«
Die Stimme nahm ihr die letzten Zweifel. Natürlich war ihr verboten worden, das obere Stockwerk zu betreten, aber wenn der Herzog persönlich nach ihr verlangte, wie sollte sie sich da seinem Befehl verweigern?
Sie erreichte das Ende der Treppe – und erschrak.
Denn im selben Moment, in dem sie ihren Fuß auf den mit buntem Mosaik belegten Boden setzte, gewahrte sie die dunkle Gestalt, die dort stand und ihr den Weg verwehrte, riesenhaft und drohend: Manus.
Ein spitzer Schrei entrang sich Serenas Kehle.
Aus einem Grund, den sie selbst nicht benennen konnte, hatte sie Angst vor dem hünenhaften Leibdiener – sei es wegen seiner wortkargen, unbeholfenen Art oder der Vorsicht wegen, mit der Ginesepina ihm stets begegnet war. Jäh glaubte Serena zu begreifen, was all dies zu bedeuten hatte. Es war eine Prüfung gewesen, um ihre Verlässlichkeit zu testen – und sie hatte jämmerlich versagt.
»E-es tut mir leid«, beeilte sie sich dem riesigen, dunkel gewandeten Diener zu versichern, »ich wollte nicht …«
Doch Manus unternahm keine Anstalten, sie am Betreten des oberen Stockwerks zu hindern. Im Gegenteil, er trat zur Seite und verschränkte die Arme vor der breiten Brust, als wollte er demonstrieren, dass sie nichts vor ihm zu befürchten habe.
»Serena! Wo bleibst du, Kind …?«
Ihre Blicke glitten unsicher zwischen Manus und der halb geöffneten Tür am Ende des Ganges hin und her, aus der die Stimme drang. Als der Diener noch immer keine Anstalten unternahm, sie an irgendetwas zu hindern, setzte sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen, schlich an ihm vorbei zur Tür und schlüpfte hindurch.
Eine andere Welt schien jenseits dieser Tür zu liegen.
Bunter Prunk übersäte den Raum: Die ansonsten schlichte Eleganz des alten Palazzo mit den Mosaikböden und den Säulen aus Marmor war hier verborgen hinter üppigen Wandbehängen und -teppichen. Fahnen und Standarten schmückten den Raum, und trotz der noch milden Jahreszeit brannte Feuer im Kamin. Der Raum, der vom Boden bis zur Decke an die zwei Mannslängen messen mochte, war nahezu leer bis auf einen Tisch, der die Mitte einnahm, und einen schweren, samtbezogenen Sessel, in dem Serena eine einsame Gestalt erblickte.
Der Mann mochte an die fünfzig Jahre alt sein; sein Haar war schütter und nahezu ergraut, reichte ihm aber bis zu den Schultern; seine Züge waren ältlich und von Furchen gezeichnet, jedoch von rosiger Farbe und einer Weichheit, wie Serena sie noch nie zuvor bei einem Mann gesehen hatte. In seinen jungen Tagen, so dachte sie unwillkürlich, musste er von erhabener Schönheit gewesen sein, nicht grob und kantig wie so viele seines Geschlechts, sondern von einer seltenen, fast weiblich
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