Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
und die falschen Geschäfte getätigt haben, müssen nun alle dafür büßen?«
»So ist es, Mrs. Hay«, bekräftigte McCauley. »In der modernen Welt, in der wir leben, ist alles miteinander verbunden. Was dem einen widerfährt, widerfährt früher oder später auch dem anderen. Würden die Menschen diese simple Weisheit begreifen, würde es manchen Missstand nicht geben.«
»Da stimme ich Ihnen zu«, erwiderte Mary.
Sie hatten das Gebäude der Hafenkommandantur erreicht. An den beiden Posten vorbei betraten sie die Eingangshalle, wo sie ein uniformierter Beamter in Empfang nahm und in eine Amtsstube führte. Ein ältlich aussehender Mann mit angegrautem Haar saß dort hinter einem großen Schreibtisch. Der linke Ärmel seiner mit Knöpfen und Epauletten verzierten Marineuniform hing leer von seiner Schulter, was die Vermutung nahelegte, dass er ein Veteran der napoleonischen Kriege war. Mit der verbliebenen Hand war er dabei, sich eine Pfeife anzustecken, worin er offenbar einige Übung besaß. Erst nachdem er sein Werk vollendet und einige Züge genommen hatte, wandte er sich den Besuchern zu, die daraufhin ihre Papiere vorlegten.
Der Veteran überflog sowohl die Ausweise als auch die Begleitschreiben. McCauley fertigte er als ersten ab. Seine Einladung an die Royal Academy machte offenbar so viel Eindruck, dass auch ein königlicher Grenzwächter nicht ganz davor gefeit war. Als Nächstes nahm er Quentins und Marys Papiere in Augenschein.
»Mr. Hay?«, fragte er mit ebenso tiefer wie strenger Stimme, wobei sich die buschigen Brauen kritisch verengten.
»Ja, Sir, das bin ich«, bestätigte Quentin.
»Sie sind Schotte von Geburt?«
»Das ist richtig, Sir.«
»Und Ihre Gattin …«
»… ist Amerikanerin«, erwiderte Quentin kurzerhand. Sie waren in die USA gegangen, um dort ein neues Leben zu beginnen, was in Marys Fall auch eine neue Identität bedeutet hatte. Mary of Egton, die Tochter aus verarmtem Adel, deren Heirat mit dem Laird of Ruthven ihrer Familie wieder Wohlstand und Ansehen hatte eintragen sollen, existierte nicht mehr. Nur Mary Hay gab es noch, seine angetraute Frau …
»Gut«, meinte der Offizier und fertigte auch die Einreisedokumente der beiden ab, indem er sie mit einem Stempel und seiner Unterschrift versah. Dann nahm er sich Brighids Papiere vor, und sogleich verfinsterten sich seine Züge.
»Kein Ausweis?«, fragte er nur.
»Nein, Sir«, bestätigte Quentin. »Wir müssen davon ausgehen, dass Madame Brighid diese Überfahrt nicht aus freien Stücken angetreten hat. Ihre Anwesenheit an Bord wurde erst kurz vor Neufundland von der Mannschaft entdeckt.«
»Also reiste sie als blinder Passagier?«
»Die näheren Umstände, unter denen sie ihre Reise angetreten hat, sind nicht bekannt«, erwiderte Quentin, »denn sie ist nicht in der Lage, sich daran zu erinnern.«
»Sie erinnert sich nicht?« Eine kleine Rauchwolke entwich durch den vor Staunen offen stehenden Mund des Offiziers.
»Nein, Sir. Zudem ist sie nur der französischen Sprache mächtig.«
»Französisch. Ausgerechnet.« Der missbilligende Augenaufschlag des Mannes zeigte, dass Quentins Vermutung hinsichtlich des Verlusts seines linken Armes wohl richtig gewesen war. Nichtsdestotrotz – oder vielleicht gerade deswegen – war der Veteran schneidig bei der Sache. »Womöglich ist sie eine Spionin«, mutmaßte er.
»Eine Spionin?« Zornesröte schoss Mary ins bleiche Gesicht. »Ist das Ihre ganze Weisheit, Mister …«
» Lieutenant Frowley«, verbesserte der andere und straffte sich. »Und ich wüsste nicht, was Sie das angeht, Mrs. Hay.«
»Bei allem gebührenden Respekt, Sir«, entgegnete Quentin, noch ehe Mary etwas erwidern konnte, »was meine Gattin damit sagen will, ist, dass der Krieg gegen Frankreich zu Ende ist.«
»Und?«, fuhr der Offizier ihn an. »Ein Hai bleibt ein Hai, auch wenn er zur Ausnahme keine kleinen Fische frisst.«
»Vielleicht«, warf McCauley ein, »aber in diesem Fall … Ich meine, die Dame sieht nicht wie ein Haifisch aus, oder?«
»Zugegeben«, räumte Frowley ein, während er Brighid musterte, die alles wortlos über sich ergehen ließ. Ob sie etwas von dem verstand, was gesprochen wurde, war nicht festzustellen, ihr Hilfe suchender Blick jedoch glitt immer wieder zu Mary. »Aber danach habe ich nicht zu urteilen, sondern nach der jeweiligen Sachlage. Und so, wie sich mir die Dinge präsentieren, bin ich nicht gewillt, einer Person, hinter der sich alles Mögliche verbergen
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