Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
gefiel ihr nicht. Wo blieben seine väterliche Art, sein einfühlsames Wesen? »Was ist mit Euch, Herr?«, fragte sie deshalb in ehrlicher Sorge. »Ihr wirkt heute so …«
»Was?«, wollte er wissen und sah sie herausfordernd an.
Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, blieb eine Antwort schuldig – was ihm ein Lächeln entlockte.
»Ich weiß, was du sagen willst«, versicherte er. »Ich sehe alt aus an diesem Morgen. Vom nahen Tod gezeichnet.«
»Nein«, beeilte sie sich zu versichern, obwohl es genau das war, was ihr auf der Zunge gelegen hatte.
»O doch«, widersprach er und lächelte dabei weiter, als wollte er ihr zu verstehen geben, dass er es ihr nicht verübelte. »Und du hast recht, mein Kind. In der Tat weiß ich nicht, wie oft es uns beiden noch vergönnt sein wird, uns zu sehen.«
»Nein!«, rief Serena aus. Die dumpfe Sorge, die sie bislang gespürt hatte, steigerte sich in Furcht. Angst davor, den einzigen Menschen zu verlieren, der ihr etwas bedeutete – und dem sie etwas bedeutete.
Der Herzog lachte leise. »Wie immer sind es deine Gefühle, die zuerst für dich sprechen«, stellte er fest. »Und wie immer zeigen sie, welch edlen Gemüts du bist.«
»Aber nein, Herr, ich … Ihr seid derjenige, dessen Edelmut bewundert werden muss. Ihr seid in Eurem eigenen Haus von Feinden umgeben, und dennoch haltet Ihr tapfer aus und ertragt Euer Schicksal …«
»… wie ein erbärmlicher Feigling«, gab er dem Satz eine völlig andere Richtung und lächelte wehmütig.
»Aber nein, Herr, Ihr …«
»Ich habe oft über das nachgedacht, was du mir anvertraut hast. Über deine Jugend in Pistoia, über deinen Onkel und über deine Flucht. Du hast getan, was ich niemals über mich gebracht habe, mein Kind: Du hast deinem alten Leben den Rücken gekehrt und ein neues begonnen. Mir hat dazu stets der Mut gefehlt.«
»Aber sagtet Ihr nicht, dass auch Ihr einst geflohen seid?«
Der Herzog nickte. »Vor langer Zeit und unter Bedingungen, die ich dir kaum zu offenbaren wage. Eine junge Frau, dir in vieler Hinsicht ähnlich, rettete mir damals das Leben. Und statt ihr für den Rest meines Lebens auf den Knien dafür zu danken, habe ich mich von ihr abgewandt.«
Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, er starrte düster vor sich hin, eine Nüchternheit im Blick, die sie zuvor nicht bei ihm gesehen hatte. Plötzlich wurde Serena klar, was an diesem Morgen anders war als sonst. Da war kein mit Wein gefüllter Becher, den der Herzog in der Hand hielt und aus dem er immerzu trank. Zum ersten Mal erlebte sie sein wahres Wesen …
»Was quält Euch, Herr?«, fragte sie leise. Sie ließ sich bei ihm nieder und ergriff seine Hand.
»Manches«, gestand er und lächelte schwach. »Vergebene Chancen, missachtete Gelegenheiten, vertanes Glück. Am meisten jedoch quält mich, dass ich dir nicht die Wahrheit über mich gesagt habe. Ich bin nicht der, für den du mich hältst.«
»Warum sagt Ihr so etwas?« Serena blickte verständnislos in das ältliche Gesicht. »Sind wir nicht Freunde geworden? Haben wir einander nicht ins Vertrauen gezogen?«
»Ja«, gab er zu, »und nein. Denn ich kann dir nicht alles offenbaren, um deinetwillen nicht. Aber ich kann dich warnen, dir sagen, dass Veränderungen kommen werden.«
»Veränderungen? Was für Veränderungen, Herr? Ich fürchte, ich verstehe nicht. Hat es mit den Besuchern zu tun, die …?«
»Mehr kann ich dir nicht sagen, weil ich weder dein Leben noch das meine um einer Sache willen gefährden möchte, an die wir beide nicht glauben. Aber ich möchte dich entlohnen, mein Kind. Für die vielen Stunden, die du meinen Worten gelauscht hast und in denen du mir in Freundschaft zugetan warst.«
»Das müsst Ihr nicht, Herr.«
»Ich weiß«, versicherte er, »doch ich möchte es. Denn zumindest diesmal will ich dem Wesen, das mich engelsgleich gerettet hat, nichts schuldig bleiben.«
Damit zog er seine Hand unter der ihren hervor und betrachtete die Ringe daran. Kurz entschlossen zog er einen davon vom Finger und hielt ihn ihr hin.
»Nein, Herr«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
»Es ist weitaus weniger, als ich dir schulde, mein Kind«, beharrte er. »Nimm ihn dennoch an, als demütiges Geschenk eines alten Narren.«
»Aber das … das kann ich nicht! Womit hätte ich so viel Großzügigkeit verdient?«
»Durch dein großzügiges Wesen. Dein offenes Ohr. Deine aufrichtige Art.«
Einen Augenblick lang war Serena unfähig zu einer
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