Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Arbeitszimmer nicht mehr aushielt. Zu gegenwärtig war noch die Erinnerung an seinen Onkel, zu beherrschend noch dessen Präsenz.
Vom Bedürfnis nach Gesellschaft getrieben, ging Quentin hinunter in den Speiseraum, wo sich bereits nicht nur Lady Charlotte sowie Mary, Brighid und Walter eingefunden hatten, sondern auch die übrigen Kinder der Familie, die allerdings längst keine Kinder mehr waren: Sophia, die älteste Tochter, war eigens aus Galashiels gekommen, wo sie inzwischen wohnte; und auch an ihren Geschwistern Anne und Charles war die Zeit nicht spurlos vorübergegangen. Anne war zu einer jungen Frau herangewachsen, deren anmutige Züge deutlich an die ihrer Mutter erinnerten; Charles war inzwischen ein Bursche von zwanzig Jahren, der sehr nach seinem Vater kam. Seine Augen, seine Kinnpartie, seine ganze Art zu sprechen weckten bei Quentin schmerzliche Erinnerungen, was er sich jedoch nicht anmerken ließ.
»Charlie!«, rief er aus und umarmte den Jungen herzlich. »Ist das zu fassen? Kaum lässt man dich ein paar Jahre allein, wird schon ein Mann aus dir!«
»Ach wo, das sieht nur so aus«, scherzte Walter und versetzte seinem jüngeren Bruder einen Rippenstoß. »Unter diesem wirren Haarschopf ist er noch immer derselbe Kindskopf wie damals. Nicht wahr, Bruderherz?«
»Du musst es ja wissen.«
»Wie schön es ist, euch alle wiederzusehen«, sagte Quentin. »Ich wünschte nur, der Anlass wäre weniger traurig.«
»Das wünschten wir alle«, versicherte Lady Charlotte, wobei sie nach einem Glas Sherry griff. »Doch mein verschiedener Gatte pflegte zu sagen, dass man Feste feiern muss, wie sie fallen, deshalb möchte ich mein Glas erheben und einen Toast ausbringen: Auf Quentin und Mary, die in den Kreis der Familie zurückgekehrt sind!«
»Auf Quentin und Mary!«, echote es reihum.
»Und auf Onkel Walter, wo immer er jetzt sein mag!«, fügte Quentin hinzu.
»Auf Vater!«, entgegneten die Scotts, und alle tranken, ehe sie sich an die bereits gedeckte Tafel setzten. Lady Charlotte nahm am Fußende Platz, Quentin und Mary zu ihren Seiten, dann Brighid und die Kinder. Der Stuhl am Kopfende des Tisches jedoch blieb leer, keiner der Anwesenden hätte es über sich gebracht, sich auf Sir Walters Platz zu setzen.
Die Haushälterin kam und servierte das Essen, eine einfache, aber kräftigende Mahlzeit, die im Wesentlichen aus einer mit Lammfleisch gefüllten Pastete bestand. Quentin hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als offen danach zu fragen, aber schon bei der Durchsicht der Bücher von Abbotsford hatte er das Gefühl gehabt, dass es um die Finanzen der Familie Scott nicht zum Besten bestellt war.
Er vermied das Thema auch weiterhin, gab stattdessen bereitwillig darüber Auskunft, wie sich das Leben in der Neuen Welt gestaltete.
»Und ist es wahr, dass du auch Schriftsteller geworden bist, genau wie Vater?«, wollte Anne wissen.
»Nein, das wäre doch sehr übertrieben«, wehrte Quentin ab. »Ich arbeite lediglich als Schreiber für die Zeitung. Gleich nach unserer Ankunft bekam ich Arbeit bei der New York Gazette , die jedoch nach ein paar Tagen ihr Erscheinen einstellte. Also musste ich noch einmal ganz von vorn beginnen. Inzwischen arbeite ich für die New York Evening Post .«
»Und du, liebe Mary?«, erkundigte sich Lady Charlotte.
»Nichts weiter«, erwiderte Mary rasch. »Ich unterstütze Quentin, so gut ich es vermag. Ansonsten führe ich ein sehr ruhiges und beschauliches Leben in New York.«
Sie sandte Quentin einen Blick zu, den dieser mit einem leichten Nicken beantwortete. Lady Charlotte schien es zu bemerken, und es war ihr anzusehen, dass sie gerne gewusst hätte, was zwischen den beiden vor sich ging, aber sie hakte nicht nach, was Quentin ihr hoch anrechnete.
»Amerika muss großartig sein«, begeisterte sich Charlie.
»Das ist es«, versicherte Quentin, dankbar für die Ablenkung. »Das Landesinnere ist so groß und weit, dass es noch längst nicht zur Gänze erforscht ist. Erst vor zwei Jahrzehnten ist eine Expedition zum ersten Mal über die Nordwestpassage bis zum Pazifik vorgestoßen. Die beiden Männer, denen es gelang – äußerst mutige Gentlemen namens Meriwether Lewis und William Clark –, wurden dadurch zu gefeierten Helden.«
»Und ist es auch wahr, dass dort im Westen Wilde leben, die weißen Siedlern Haut und Haare vom Kopf schneiden?«
»Charlie!«, empörte sich Lady Charlotte. »Nicht bei Tisch!«
»Es ist wahr«, bestätigte Quentin bereitwillig.
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