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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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und schon der Gedanke an den fernen Westen mit seinen unbekannten Sitten und einem Glauben, der anders war als der, den er so viele Jahre gepredigt hatte, erschreckte ihn. Zudem fühlte er allmählich sein Alter. Er war nicht mehr jung gewesen, als Dimitri die Herrschaft in Worosansk übernommen hatte, und die Zeit unter dem unberechenbaren Fürsten und die anschließende Flucht hatten seine Kräfte über Gebühr beansprucht. Mit einem heftigen Ruck stand er auf und stieg aufs Achterkastell. Der Kapitän sah ihn kommen und winkte einen Matrosen zu sich, der ein wenig Russisch verstand.
    Marie sah, wie Pantelej auf den Kapitän einredete und zuletzt sogar laut wurde, und die Reaktion des Venezianers zeigte ihr, dass dieser über die Vorschläge des Priesters nicht gerade erfreut war. Schließlich aber winkte er ärgerlich ab und gab dem Steuermann den Befehl, den Bug nach Westen zu richten.
    Unruhig geworden stand Marie auf, brachte Egon zu Alika und gesellte sich zu Andrej, der an der Bordwand stand und düster aufs Meer hinausstarrte.
    »Weißt du, was Pantelej von unserem Kapitän gewollt hat?«
    Andrej nickte bedrückt. »Der Gute will uns verlassen. Auf der Halbinsel Athos, die wir vielleicht schon morgen im Verlauf des Tages erreichen werden, befinden sich mehrere Klöster, und in einem davon leben Mönche aus Russland. Unser Väterchen Pantelej will sich ihnen anschließen, um dort ein gottgefälliges Leben zu führen und um unser Seelenheil zu beten.«
    Zu Beginn ihrer Bekanntschaft mit dem Popen hatte Marie diesen als Bedrohung angesehen und gefürchtet. Jetzt aber bedauerte sie sein Scheiden, denn er hatte ihr und den anderen in einer schlimmen Zeit Halt geboten. Ihn jetzt so plötzlich zu verlieren tat weh.
    »Hast du dich inzwischen entschieden, was du tun wirst, Andrej Grigorijewitsch? Wirst du bei Prinz Konstantinos in Mistra bleiben?«
    Andrej schüttelte den Kopf. »Wäre ich allein, würde ich es tun, doch das Schicksal hat mir die Sorge für Anastasia und ihre Kinder auferlegt. Auf dem Peloponnes wären sie in steter Gefahr. Auch dort werden viele Griechen glauben, ihre Auslieferung oder ihr Tod würde Wassili von Moskau veranlassen, ihnen ein starkes Heer zu Hilfe zu schicken.«
    Er klang deprimiert, denn Konstantinos Dragestes’ Machtbereich war der letzte Vorposten seines griechisch-russischen Christentums, und jeder Ruderschlag der Galeere führte ihn weiter in die Länder des lateinischen Glaubens. Doch es gab keinen anderen Weg, der Sicherheit versprach.
    Marie fühlte, dass Andrej allein gelassen werden wollte, und zog sich zurück. Mit einem raschen Blick erkannte sie, dass Alika ihre Hilfe brauchte. Egon wollte schon wieder die Reling hochklettern, und dabei benötigte ihre dunkle Freundin bereits beideHände, um die aufmüpfige Lisa zu bändigen. Marie pflückte Egon von seinem luftigen Aussichtsplatz und sah ihn strafend an.
    »Was habe ich dir vorhin gepredigt, mein Guter?«

XII.
     
    D ie Felswand ragte wie eine riesige Mauer vor der venezianischen Handelsgaleere auf, und dennoch fanden Bäume und Sträucher genug Platz, um den Berg Athos in einen grünen Mantel zu hüllen, der nur an einigen Stellen von den schlichten Gebäuden eines Klosters durchbrochen wurde. Marie hatte inzwischen erfahren, dass Schiffe an speziellen Plätzen anlegen durften. Da sich an Bord des ihren jedoch Frauen befanden, musste die Galeere sich einen Pfeilschuss weit vom Ufer entfernt halten. Den Erzählungen der Matrosen nach, die der Russisch sprechende Steuermann für Marie übersetzte, duldeten die Mönche nicht einmal weibliche Tiere auf Athos und mussten daher auf Milch und Eier verzichten. Eine so strenge Haltung erschien ihr arg übertrieben, und sie fragte sich, wie Pantelej, der sowohl in Worosansk wie auch in Konstantinopel die Freuden der Tafel genossen hatte, in einer solch kargen Umwelt glücklich werden sollte. Doch er hatte diesen Weg nun einmal gewählt und das Boot, mit dem er in sein neues Leben treten würde, wurde bereits auf sie zugerudert.
    Der Priester trat aus der Kabine unter dem Achterdeck, die er sich mit Andrej geteilt hatte, und trug in der einen Hand einen Stock und in der anderen ein kleines Bündel. Beides legte er an Deck ab, kam dann auf die Kinder zu und zeichnete jedem das Kreuz auf die Stirn. Über seine Wangen liefen Tränen und verfingen sich in seinem langen Bart, der weitaus grauer wirkte, als Marie es in Erinnerung hatte. Nun segnete der Pope Gelja, dievor ihm auf die

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