Das Vermächtnis der Wanderhure
Klöstern zu übernachten und jedes Mal einige Tage zu bleiben, um die Neugier ihrer Gastgeber zu stillen. Eine solche Reise hätte viel Zeit und weitaus mehr Geld gekostet, als Marie auszugeben bereit war. Zudem war ihr eine unauffällige Fahrt mit dem Handelszug lieber, da sie nicht wusste, welche verwandtschaftlichen Beziehungen Hulda von Hettenheim zu den edlen Familien in der Lombardei, in Kärnten oder Tirol unterhielt.
Ihre Reise verlief nicht ohne Zwischenfälle. Bei einer Rast kletterte Egon auf eines der mannshohen Räder eines Ochsenkarrens und verlor das Gleichgewicht, als die Zugtiere sich unruhig bewegten. Marie schrie auf und stürzte zu ihm. Als sie ihn von Boden aufhob, war sein Körper schlaff, und aus einer Wunde an der Stirn sickerte Blut.
»Heilige Madonna, hilf mir. Lass ihn nicht sterben!« Marie war so erschrocken, dass sie alles vergaß, was sie als Kräuterfrau und Hebamme gelernt hatte.
Einer der Fuhrknechte kniete sich neben sie und fasste das Handgelenk des Jungen. »Keine Sorge, Herrin. Der Bursche ist noch am Leben, und wenn Sankt Christophorus will, wird er den Sturz überstehen.«
Er ließ sich von einem Freund ein Tuch mit Wein reichen und wusch Egons Wunde aus. Dabei tastete er den Schädelknochen ab und grinste Marie mit wahren Pferdezähnen an.
»Ich sagte es doch, er hat sich nichts gebrochen. Das Kerlchen ist nur ein wenig bewusstlos. Wenn Ihr mir ein wenig Wasser vom Bach holen wollt, mache ich ihn gleich wieder lebendig.«
»Versündige dich nicht, Hannes. Nur Gott kann Wunder tun, du aber gewiss nicht«, schalt ein Kommis, der als Vertreter seines Handelshauses den Wagenzug begleitete. Der aber lachte nur spöttisch und raunte Marie zu, dass er sich von so einemgrünen Bürschchen, das noch Eierschalen hinter den Ohren kleben hätte, gewiss nichts sagen lassen würde. Er erhielt das gewünschte Wasser, und als er Egons Gesicht damit benetzte, regte sich der Junge, murmelte etwas und schlug die Augen auf.
Marie war so erleichtert, dass sie dem Knecht einen ganzen Schilling reichte. Der Mann starrte die Münze an und schien nicht so recht zu wissen, ob er sie annehmen durfte. Er steckte sie aber dann doch weg und verneigte sich tief. »Vergelt’s Gott, Herrin.«
Marie, die ihn auf der Reise schon als zuverlässigen Knecht kennen gelernt hatte, spürte nun, dass sie einen treuen Freund unter den Leuten des Wagenzugs gefunden hatte, und überlegte, ob sie dem Mann nicht anbieten sollte, in ihre Dienste zu treten. Andrej war zwar bereit, alles zu tun, was nötig war, doch als Edelmann wollte sie ihm keine niederen Arbeiten aufbürden, und auf die Burschen in den Herbergen konnten sie sich nicht verlassen.
Die Handelsleute wählten die erprobte Route über den Reschenund Fernpass, und nicht nur Marie war erleichtert, als sie endlich die Berge erreicht hatten. Auch Andrej und Gelja atmeten auf, denn die Hitze in Italien war ihnen zu drückend geworden. Anastasia und Alika aber trauerten dem Land der Mandel- und Zitronenbäume noch einige Tage lang nach. Bald forderte die Überquerung der Alpen der kleinen Reisegruppe alle Aufmerksamkeit ab. Marie stand jedes Mal Todesängste aus, wenn sie eines der Kinder nicht gleich sah, denn der Wagenzug befand sich beinahe in jedem Augenblick in der Nähe tiefer Abgründe, und die Vorstellung, Egon, Lisa oder Wladimir könnten hinabstürzen und mit zerschmetterten Gliedern enden, verfolgte sie bis in ihre Träume.
Als die Berge nach vielen Tagen hinter ihnen zurückblieben, suchte Marie die erste Kirche auf, die sie auf ihrem Weg passierten,und dankte Gott, der Heiligen Jungfrau und Maria Magdalena für ihren Schutz. Noch war sie nicht zu Hause, doch das Land um sie herum atmete bereits die gewohnte Behaglichkeit, und der Dialekt erinnerte Marie ein wenig an jenen, den sie in ihrer Jugend in Konstanz gesprochen hatte.
Zum ersten Mal, seit sie bei Speyer in Frau Huldas Gefangenschaft geraten war, fühlte Marie sich wirklich frei, und sie genoss den Weg nach Augsburg trotz aller Beschwerlichkeiten durch das wechselnde Wetter und die schmutzigen, lauten Herbergen, in denen die Fahrensleute nächtigten. Aber erst als sie die mächtigen Türme des Domes über der Stadtmauer aufragen sah, begriff sie, was sie geleistet hatte. Sie war nicht nur der Gefangenschaft und dem Tod entronnen, sondern aus der Ferne wieder zurückgekehrt. Bislang hatte sie all ihre Wünsche und Pläne auf die Heimkehr gerichtet und darauf, Hulda von Hettenheim das
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