Das Vermächtnis der Wanderhure
zieh das Kleid an, das ich dir geschenkt habe!«
Als Trine nicht sofort gehorchte, zog ihre Herrin sie an den Haaren empor und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. »Ich habe dir etwas befohlen!«
Trine kämpfte sich auf die Beine und streifte Maries Gewand über. Einen Augenblick lang überwog ihre Wut die Angst, und sie bedachte ihre Herrin mit einem verächtlichen Blick. »Das war ein hoher Preis für dieses Kleid.«
»Der Preis wird gleich noch höher werden«, antwortete Hulda lächelnd und gab Tautacher einen Wink. Der Mann trat hinter Trine, legte ihr die Hände um den Hals und drückte mit aller Kraft zu.
Trines Augen weiteten sich vor Entsetzen, ihre Arme ruderten hilflos, während sie versuchte, Luft in die gequälten Lungen zu saugen. Tautachers Griff lockerte sich jedoch erst, als er eine Tote in den Armen hielt. Wie angeekelt ließ er den Leichnam los und wischte sich die Hände an seinen Hosen ab. »Wenn wir ihr Gesicht verunstalten und sie lange genug im Wasser liegt, wird man sie für Marie Adlerin halten.«
»Das ist mein Plan.« Huldas Blick suchte Xander. »Du wirst Trine morgen zum Rhein bringen und dort versenken. Denke aber daran, dass man sie irgendwann finden und für Marie Adlerin halten muss. Ich will, dass diese Hure, die zur Frau eines Reichsritters aufgestiegen ist, für tot gehalten wird.«
»Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Herrin.« Xander bückte sich und wollte sich Trine über den Rücken werfen.
Frau Hulda trat ärgerlich dazwischen. »Hol einen Sack und stecke sie hinein! Oder willst du die halbe Burgbesatzung als Zeugen haben?«
XII.
D as Erwachen war fürchterlich. Lange Zeit schien Marie nur aus einem Kopf zu bestehen, der sich im Takt ihrer Herzschläge unter schier unerträglichen Schmerzen weitete und wieder zusammenzog. Nach einer Weile fühlte sie auch ihre Zunge wieder,die wie altes, rissig gewordenes Leder in ihrem Mund lag. Noch länger dauerte es, bis sie sich ihrer Gliedmaßen bewusst wurde. Erst als sie mit der Hand zum Kopf greifen wollte, nahm sie den Strick wahr, der ihre Arme an etwas Kaltem, Rauen festhielt, das wohl ein Eisenring sein musste.
»Wieso bin ich gefesselt?«, fragte sie in die Dunkelheit hinein. Ihre Stimme kam ihr vor wie das Krächzen eines Raben, und doch hatte jemand sie gehört.
»Weil du unsere Gefangene bist, du widerliche Hure!«
Die Stimme war Marie bekannt, doch in ihrem elenden Zustand konnte sie sie nicht einordnen. Vergebens durchforschte sie ihr Gedächtnis, vermochte sich aber nicht zu erinnern, was geschehen war. Jemand musste sie niedergeschlagen und später mit Mohnsaft betäubt haben. Aber wer und warum? War sie einem der Ritter am Rhein in die Hände gefallen, der ein hohes Lösegeld für sie fordern wollte? Sie fürchtete schon, sie habe ihre Erinnerungen verloren so wie Michel damals in Böhmen. Langsam aber wurde ihr klar, dass sie in dem Fall nichts mehr von ihrem Mann, von Trudi und ihren Freundinnen auf Kibitzstein gewusst hätte. Nach einer Weile stiegen Bilder von einer Barke in ihr auf und von einer Herberge, in der sie auf die Weiterfahrt des Schiffes gewartet hatte. Dort war sie mitten in der Nacht zum Abtritt gegangen und hatte eine Frau weinen gehört. Sie war auf diese zugetreten und hatte sich über sie gebeugt. In dem Augenblick musste jemand hinter sie getreten sein und sie niedergeschlagen haben.
Ihrer Bewacherin schien ihr Schweigen zu lange zu dauern. Sie spürte einen Tritt gegen den Oberschenkel und riss die Augen auf. Jemand richtete eine Blendlaterne auf sie. »Das hast du von deinem falschen Stolz, du Hure! Nun erhältst du, was dir zusteht.«
»Marga?«, fragte Marie verblüfft. Es gab keinen Zweifel. Ihre Bewacherin war die ehemalige Wirtschafterin der Sobernburg, die sie als einfache Magd wiedergetroffen hatte.
»Ja, ich bin es!« Die Frau schnurrte vor Zufriedenheit.
»Warum hast du das getan?« Noch während Marie die Frage stellte, wusste sie, dass es die falsche war. Allein hätte Marga nie die Möglichkeiten gehabt, ihr unterwegs aufzulauern und sie zu entführen. Es musste eine weitaus mächtigere Person dahinterstecken.
»Ich habe dir schon immer einmal zeigen wollen, was ich von so einem Geschmeiß wie dir halte. Doch all die Jahre über musste ich den Nacken vor dir beugen, obwohl mein Vater ein Ritter und früherer Burghauptmann von Rheinsobern gewesen ist und meine Mutter die Tochter seines Vorgängers mit dessen damaliger Wirtschafterin. In meinen Adern fließt
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