Das Vermaechtnis des Caravaggio
Gedankengängen und schleuderte ihn in die andere. Seine
Gedanken wirbelten durcheinander und verknoteten sich heillos.
Er konnte bereits den Duft des Wassers
riechen. Hinter den Hügeln lagen das Meer und Genua mit seinem Hafen. Auch dort
hatte sich Michele aufgehalten, aber kaum Einfluss gezeigt. Von Del Monte hatte
er erfahren, dass Caravaggio bei seiner ersten Flucht von Rom nach Genua, vor
der Verfolgung durch den Magistrat in Sachen des Notars Pasqualone, einen
Auftrag angetragen bekommen hatte. Del Montes Schreiben an den Fürsten
Marcantonio Doria hatte den Künstler wärmstens empfohlen, sonst hätte man ihn
vermutlich nicht vom Schiff gelassen, schließlich wurde er von gerichtlicher
Seite her verfolgt, und dem Fürsten war an guten Beziehungen zu Rom gelegen.
Marcantonio Doria hatte Caravaggio die Freskierung der Loggia seiner Villa in
Sampierdarena angeboten. Sechstausend Scudi sollte der Maler dafür erhalten,
aber er hatte abgelehnt. Fresken seien nicht seine Art zu malen, hatte er dies begründet.
Del Monte, der ihm, Enrico, die Geschichte ruhig und bedächtig zu erzählen
versucht hatte, hatte immer noch erregt geklungen. Caravaggio hatte ihn das
Gesicht verlieren lassen, und das war unverzeihlich. Eigensinnig und
extravagant hatte der Kardinal den Maler genannt, obwohl Enrico die
Entscheidung durchaus verständlich fand, schließlich wusste Michele damals
bereits, dass er sich zu kurz in der ligurischen Hauptstadt aufhalten würde,
als dass er ein Fresko dieser Größe würde fertigstellen können. Erfolg, Ruhm
und Mäzene würde er sich nicht in Genua schaffen können, sondern allein in Rom.
Der Geruch des Meeres wehte mit
jeder Minute stärker zu ihm in den Verschlag. Die Fahrt verlangsamte sich, weil
sie einen Hügel erklommen und die Pferde sich kräftig ins Geschirr legen mussten.
Zudem wichen sie kleinen Viehhirten aus, die Schlachtvieh in die Stadt trieben.
Das gesamte Gefährt schwankte und schaukelte, sodass Enrico befürchtete, es
würde umschlagen. Aber der breite Radstand verhinderte dies, und Michele kehrte
zurück zu seinen Überlegungen, nachdem er ausgiebig die silbernen Rücken der
Olivenhaine am Bergrücken betrachtet hatte. Ihr silbernes Grün und das
Ockerfarbene der Stämme genoss er. Sie zeichneten dasselbe Spiel von Hell und
Dunkel, Licht und Schatten in die Landschaft wie Michele mit seiner Malerei.
Wieder klemmte er sich in eine Ecke
des Kutschenverschlags und dachte nach. Der Duft von Honig und Bienenwachs
begleitete ihn, der von einem Kraxenträger am Wegrain hereinwehte.
Schroff und abweisend war ihm
Micheles Schwester erschienen, eine rechte Salome. Warum hatte Michele sie auf
seinem Bild ‘Das Haupt des Johannes’ verewigt? Undenkbar war, dass sie sich von
Mailand aus an der Jagd auf ihren Bruder beteiligte. Warum also das Porträt?
Was hatte Michele so verletzt, dass er sie mit ins Bild aufnahm? Auf
Caravaggios Bilder gab es keinen Zufall. Also brauchte er auch keine negative
weibliche Figur für die Salome, für die sich Caterina Merisi angeboten hätte.
Michele hätten zudem ein Dutzend weiblicher Köpfe zur Verfügung gestanden, die
nicht wiedererkannt worden wären.
War seine Schwester Caterina mehr
gewesen, als die Verlobte des Mailänder Adelssprosses? Welches Ereignis ließ
einen Bruder zum Mittel des Duells greifen?
Mit der Hand wischte er sich übers
Gesicht. Die Nähe des Meeres ließ die Feuchtigkeit in der Luft ansteigen.
Oder fürchtete sich Caravaggio davor,
das zu denken, was in ihm, in Enrico, eben hochzusteigen begann, die Ahnung
eines Ereignisses? Wenn die Stimmen in Rom womöglich nicht die Unwahrheit
gesagt hatten, als sie Michele einen Schwesternschänder genannt hatten? Eine
geschlechtliche Beziehung zwischen Bruder und Schwester, in die der junge
Adlige eingedrungen war, würde vieles erklären. Damit hätte sich der verprellte
Liebhaber, hätte sich Michele nur verteidigt.
Enrico, dem die Zähne hörbar
aufeinanderschlugen, nachdem sich die Kutsche wieder abwärts bewegte und Fahrt
aufnahm, fühlte sich unwohl bei dieser Überlegung. Die Schwester hätte dann bei
seinem Besuch doch anders über den Bruder reden müssen. Sicherlich wäre ein besonderer
Grad der Zuneigung geblieben, trotzdem das Verhältnis aufgelöst worden war. Enrico
seufzte. Etwas an all diesen Überlegungen war falsch! Er kam nur nicht darauf,
was.
Als er den Kopf aus seinem
Verschlag streckte, um zu sehen, wie weit sie gekommen waren, fiel sein Blick
auf das Meer.
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