Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Vermaechtnis des Caravaggio

Das Vermaechtnis des Caravaggio

Titel: Das Vermaechtnis des Caravaggio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Dempf
Vom Netzwerk:
antwortete.
    „Mir ist, als sehe ich auf die
Trümmer eines zerstörten Lebens. Ist es nicht erstaunlich, Nerina, dass wir
jeden Morgen als dieselben erwachen, als die wir abends eingeschlafen sind?“
    Ihre Hand strich beinahe von selbst
über Micheles Haar, das sich feucht und fettig anfühlte.
    „Wir sind keine leeren Blätter,
Michele, die jeden Tag neu beschriftet werden. In uns ist eingraviert, was wir
seit unseren Kindertagen mit uns herumschleppen. Jeder Tag fügt Neues hinzu, sodass
es nicht verwunderlich ist, aufzuwachen und derselbe zu sein. Was haben wir im
Schlaf getan? Nichts! Wir verändern uns, indem wir verändern, indem wir tätig
sind. Erst wenn der Tag sich neigt, sind wir ein anderer Mensch, als der, der
am Morgen erwacht ist. Es ist geradezu unsere Pflicht, uns im Laufe unseres
Wachens zu verändern.“
    Sie redete leise, flüsterte beinahe,
wusste aber nicht, ob er ihr zuhörte. Sie glaubte jedoch, an der Haltung des
Kopfes zu erkennen, dass er Mut schöpfte, dass er versuchte, das, was sie
gesagt hatte, für sich fruchtbar zu machen.
    „Alles ist Erfahrung, Michele. Wer
das annimmt, für den fühlt sich das Leben weicher an.“
    Michele atmete tief durch und sah
hoch. In seinen Augen standen Tränen. Sie strich ihm mit den Fingern über die
Wangen, die hohl und knochig waren.
    „Ich weiß, es klingt anders, wenn
man diesen Kerker nicht kennengelernt hat. Aber morgen bist du frei. Morgen,
Michele, werden wir nach Sizilien unterwegs sein. Wenn die Sonne über den
Horizont steigt, ist Malta eine Episode deiner Vergangenheit. Du hast das Leben
vor dir, du wirst Werke schaffen, vor denen die Welt die Knie beugen wird. Ich
weiß es. Ich glaube an dich!“
    Micheles Lächeln geriet schief,
aber er saugte ihre Worte auf wie Nahrung.
    „Ich werde jetzt gehen.“
    Nerina erhob sich und trat zur Tür.
Mit den Armen griff sie unter ihr Kleid und bauschte den Stoff.
    „Nerina! Noch einen Augenblick.“
    Sie drehte sich zu Michele um. Armselig
hockte er in seiner Ecke, als wäre er in der Zeit geschrumpft. Drei Monate
Kerker dehnten sich endlos und brachen stärkere Charaktere als Michele.
    „Du darfst Pater Leonardus nicht
über den Weg trauen. Auch wenn er mein Bruder sein will, er wird dich
hintergehen. Ich weiß nicht, welchen teuflischen Plan er mit meiner Befreiung
verfolgt, aber ich fühle, dass er es nicht ehrlich meinen kann.“
    „Er ist dein Bruder!“
    „Er ist der Teufel!“
    Sie stockte. In Michele Stimme lag
unversöhnlicher Hass. Sofort dachte sie an ‘Das Haupt des Johannes’. Dort hatte
Michele den Pater mit verzerrten, beinahe unmenschlichen Gesichtszügen
dargestellt. Als Mörder.
    „Er hat das Dokument besorgt, den
Beschließer bestochen und will das Boot stellen, das uns aus Malta wegbringt.“
    Lange sagte Michele nichts, und
Nerina glaubte schon, das Gespräch sei beendet. Sie wollte sich wieder dem
Durchschlupf zuwenden, als Michele meinte.
    „Besorg ein eigenes Boot, Nerina,
wenn du willst, dass wir Sizilien lebend erreichen.“
    „Warum sollte ich ihm misstrauen,
Michele? Bislang hat er uns geholfen, mir ebenso wie dir.“
    Diesmal antwortete Michele nichts.
In der Hand die Feile, begann er langsam, die Nieten abzufeilen. Ein schabendes
Geräusch entstand, durchdringend und hell.
    „Schlaf, Träume und Tod“, meinte
Michele, als sie schon klopfen wollte. „Vielleicht ist das Leben dazwischen nur
ein Haufen vertaner Chancen.“
    Sie drehte sich um und blickte auf
das Häufchen Mensch, das in seiner Ecke an der Mauer kauerte, in sich
zusammengesunken und bar jeden Lebensmutes. Hatte es sich gelohnt, ihm diese
Möglichkeit zu eröffnen, wenn sie nicht wusste, ob er sie ergreifen würde?
    „Jede Möglichkeit, die man
vorüberziehen lässt, ist vertan. Man sollte ihr nicht nachtrauern. Vielleicht
ist es gut so. Ergreif die Chancen, die sich dir aufdrängen, und du wirst ihnen
nicht entgehen können. Sie verfolgen dich bis in die Träume hinein, Michele,
ein Leben lang.“
    Nerina wartete nicht ab, was
Michele erwiderte. Sie schlug gegen die Kerkertür und wartete, bis der
Beschließer öffnete. Als sie auf den Gang hinaustrat, beobachtete sie aus dem
Augenwinkel heraus, dass der Beschließer tatsächlich nur so tat, als würde er
die Pforte verriegeln. Tatsächlich blieb sie offen. Mit einem Hochgefühl ließ
sie sich aus dem Fort Sant’Angelo hinausbegleiten.
15.
    „Warum?“
    Nerina saß über Michele auf einer
Seitenbank des Fischerbootes. Das dunkle Blau des

Weitere Kostenlose Bücher