Das Vermaechtnis des Caravaggio
entkräftet, um lange wach zu
bleiben. Das Schlagen des Bootes schläferte ihn ein.
Nerina seufzte. Jetzt saß sie wieder
neben ihm. Sein Körper glich eher dem eines Leichnams, als dem eines lebenden
Menschen. Jetzt bohrte wieder die Frage in ihr, warum sie tat, was sie tat.
Warum sie seit Monaten darauf verzichtete, selber zu malen. Ihre eigene
Entwicklung ruhte, während sie Michele durch halb Italien nachreiste und ihr
Leben dabei aufs Spiel setzte. War es der Mensch Michele Merisi wert? Wenn sie
den geschundenen Körper betrachtete, musste sie die Frage zwangsläufig bejahen.
Sie empfand Mitleid. Wenn sie jedoch an die Exzesse, an die Nächte in den
römischen und neapolitanischen Osterias zurückdachte, dann scheute sie ihre
eigene Entscheidung und schalt sich einen Esel. Viel lieber wäre es ihr
gewesen, in Enricos Nähe zu sein, seine Hände zu spüren, in seinen Augen das Leuchten
der Erregung wahrzunehmen und in ihnen dann zu versinken.
Was gab ihr Michele, der nicht
einmal etwas von ihr wollte, zu dem sie sich körperlich nicht hingezogen
fühlte? Was gab er ihr, was ihr Enrico nicht geben konnte? Dass sie der Geburt
einer neuen Malerei beiwohnen durfte? Dass sie einem Genie begegnete, das erst
die Nachwelt als solches erkennen würde? Für eine plausible Antwort reichten
diese Argumente kaum, wenn sie auch womöglich den Kern trafen.
Michele zuckte im Schlaf, und manchmal
schlug er mit den Händen um sich und rief Unverständliches. Nerina saß da und
beobachtete die Grimassen, die er schnitt, als würde er tief in seinem Inneren
gequält. Sie hätte nur zu gerne gewusst, was ihn quälte.
Sie musste eingeschlafen sein, denn
als sie erwachte, saß Michele auf der Seitenbank des Bootes ihr gegenüber und
starrte auf seine zerstörten Hände. Schwarz ausgetrocknetes Blut klebte in
Krusten daran und zog die Finger nach innen. Micheles Arme zitterten und
zuckten, und er murmelte denselben Satz in einer endlosen Litanei: „Sie werden
nie wieder einen Pinsel halten können. Sie werden nie wieder einen Pinsel
halten können ...“
Rund um sie her dehnte sich eine
Wasserwüste, die nur durch aufspritzende Schaumkronen in ihrer Trostlosigkeit
unterbrochen wurde. Wie Evangelos hier die Richtung hielt, entzog sich ihr,
aber offenbar wusste er genau, wohin er steuern musste. Unverbrüchlich saß er
am Steuer, den Blick auf den Horizont gerichtet. Als sie zu ihm hinüberblickte,
zog er die rechte Augenbraue hoch, als wolle er ihr andeuten, dass ihr
Passagier ein recht schräger Vogel sei, den auch er nicht annähernd verstehe.
Langsam, aber mit dem Gleichmaß
eines Pendels, wippte Michele auf seiner Bank vor und zurück, vor und zurück.
Tränen stiegen Nerina in die Augen, wenn sie diese Elendsgestalt mit dem
kraftstrotzenden Raufbold verglich, der er in Rom gewesen war.
„Wohin gehen wir in Syrakus? Kennst
du dort jemanden?“
Michele wippte unverdrossen weiter.
Mitten in einer Aufwärtsbewegung hielt er inne und sah sie erstaunt an, mit den
großen Augen eines Kindes.
„Mario Minniti. Er ist ein Freund.“
„Kann man ihm vertrauen?“
Ohne den Blick von seinen Händen zu
nehmen, nickte er und drehte ihr die blutverkrusteten Innenflächen zu. Das
Salz, das in der Luft lag wie ein feiner Staub, bedeckte bereits die Wunde.
Zwar konnte sie sich so nicht infizieren, und Nerina machte sich keinerlei
Sorgen bezüglich einer Entzündung, aber das Salz verhinderte die Heilung und
ließ Narben entstehen.
Evangelos pfiff. Mit ausgestreckter
Hand deutete er an den Horizont westlich von ihnen. Dort tauchte aus dem Wasser
das typische, dreieckige Segel einer Galeere auf.
„Sie verfolgen uns!“
Evangelos wiegte den Kopf.
„Sie halten nicht auf uns zu.
Außerdem wäre es zu früh. Eine Galeere schiffbar zu machen, kostet Stunden,
allein die Ruderer an Bord zu holen, auch wenn sie allesamt Sklaven sind. Wenn
wir unser Segel einholen und den Mast umlegen, können sie uns vermutlich nicht
einmal sehen. Sie halten zwar Kurs auf Sizilien, aber sie werden, wenn sie so
weiterfahren, Längen an uns vorüberrauschen.“
„Worauf warten wir noch!“, meinte
Nerina und erhob sich. Michele streckte ihr seine Hände entgegen und sagte
etwas, das sie nicht verstehen wollte. Sie griff nach dem Seil, entzurrte das
Segel, und die Leinwand fiel mit einem Ruck. Nur knapp verfehlte sie Michele,
der davon keine Notiz nahm.
„Mario Minniti!“, flüsterte Nerina.
16.
„Eure Heiligkeit, Ihr dürft Euch
nicht dagegen
Weitere Kostenlose Bücher